SWR2 Wort zum Tag

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Unsere Nachbarn haben diamantene Hochzeit gefeiert. 60 Jahre verheiratet. Und die beiden feierten dieses Fest letztes Wochenende mit einem Gottesdienst. Der begann mit einer Panne. Alle sind da, achtzehn Uhr ist längst vorbei - aber der Gottesdienst fängt nicht an. Unruhe macht sich breit. Hat der Pfarrer verschlafen? Ist ein Unglück passiert? Dann sind plötzlich Schritte zu hören. Ein Mann kommt durch die Kirche, verschwindet hinter der Orgel. Alles atmet auf. Das war der Organist. Der ist doch tatsächlich zu spät gekommen. Es geht los. Zu-spät-kommen, das passiert so ziemlich jedem einmal. Ziemlich eindrücklich fand ich, dass in demselben Gottesdienst eine Geschichte über das Zu-spät-kommen im Mittelpunkt stand. Eine Ostergeschichte. Da erscheint Jesus nach seinem Tod seinen Freunden. Redet mit ihnen, macht Ihnen Mut. Einer verpasst Jesus, weil er zu spät kommt: Thomas. Und kriegt so nur vom Hörersagen mit, dass Jesus lebt. Das reicht dem Thomas aber nicht, der seitdem „der Zweifler" heißt. Er sagt: „Ich glaube das alles nicht, wenn ich Jesus nicht selbst gesehen und angefasst habe." Sonst heißt es ja: Wer zu spät kommt, den bestraft das Leben. Aber bei Thomas ist das anders. Er kriegt eine zweite Chance. Jesus kommt noch einmal zu seinen Freuden - und diesmal ist der Zweifler Thomas dabei. Er kann jetzt alles aus erster Hand sehen und wahrnehmen. Wer zu spät kommt, den bestraft das Leben. Stimmt oft. Oft genug gibt es nur eine Chance. Dann heißt es: Aus und vorbei. Nichts geht mehr. Jesus stellt in der Ostergeschichte diese Logik auf den Kopf. Gott schenkt eine zweite Chance - schenkt die Chance, doch noch dabei zu sein, alles zu sehen, zu hören, was wichtig ist im Leben. Und glauben zu können. Daran, dass das Leben immer wieder neue Chancen bietet. Ich fand das auch ein starkes Bild für das diamantene Hochzeitspaar - ein paar Reihen vor mir in der Kirche. 60 Jahren zusammen sein: Ich glaube, das geht nur, wenn man sich immer wieder zweite und vielleicht sogar dritte und vierte Chancen gibt. Und wohl deshalb ließen sich die beiden auch von einem verspäteten Organisten nicht aus der Ruhe bringen. Auch der bekam seine Chance, doch noch die Orgel zu spielen. Ein paar Minuten zu spät zwar - aber was macht das aus, wenn man auf ein so langes gemeinsames Leben zurückblicken kann?

https://www.kirche-im-swr.de/?m=10622
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