SWR2 Wort zum Tag

SWR2 Wort zum Tag

„Ich sollte meine eigenen Probleme nicht so schwer nehmen." - „Ich denke jetzt mehr darüber nach, wie sich ein Mensch fühlt." - „Ich wäre nicht in der Lage, so einen Beruf zu machen."
Ein Woche lang haben die Zehntklässler in einer sozialen Einrichtung gearbeitet. Mit Kindern und Jugendlichen, alten und behinderten Menschen oder Obdachlosen. Ihre Erfahrungen sind so unterschiedlich wie sie selbst und wie die Menschen, denen sie begegnet sind. Ihre Rückmeldungen haben mich beeindruckt. Ich glaube, sie alle haben in dieser Woche viel gelernt - über sich und über die Gesellschaft, in der sie leben.
„Es war zu kurz" - diese Bemerkung habe ich auf den Auswertungsbögen oft gefunden. Früher war das Praktikum zwei Wochen lang. Aber seit das Abitur schon nach zwölf Jahren gemacht wird, wurde auch das Praktikum gekürzt. Ein Kompromiss, um zusätzlichen Unterrichtsausfall in der verkürzten Schulzeit zu vermeiden.
Ähnliches höre ich auch von anderswo. Nach der zehnten Klasse hören die Jugendlichen auf, sich in der Gemeinde zu engagieren, erzählt eine Kollegin. Obwohl sie da erst so richtig loslegen könnten und Verantwortung übernehmen. Die Schule hat Vorrang. Das Ergebnis einer bundesweiten Umfrage bestätigt diesen Trend: Von den Schülern, die ihr Abitur nach 13 Jahren machen, engagiert sich jeder zweite ehrenamtlich, von denen, die 12 Jahre in die Schule gehen, ist es nur noch jeder dritte. Nicht selten sind es besorgte Eltern, die ihre Kinder von zusätzlichem Engagement abhalten. Die Schule geht vor, schließlich geht es um das Abitur und damit um die Zukunftschancen.
Ich halte das für ein Missverständnis. Denn längst ist ja klar, dass der Erfolg im Leben nicht von ein paar Unterrichtsstunden mehr abhängt - sondern davon, wie wir an Aufgaben herangehen, ob wir gelernt haben, mit Schwierigkeiten umzugehen und uns begeistern können für das, was wir tun.
In der Sprache der Bibel ist dafür das Herz zuständig. Nicht so sehr als Zentrum der Gefühle, sondern als Ort, wo über die Richtung entschieden wird, die ein Mensch einschlägt, über das Ziel, an dem er sich ausrichtet. Dafür bedarf es, um einen ganz alten Begriff zu verwenden, der „Herzensbildung".
Die aber erfordert nicht nur einen Grundstock an Wissen, sondern eben auch andere Erfahrungen: als Jugendtrainerin im Handballverein zum Beispiel oder als Jungscharleiter in der Gemeinde. Dass Jugendliche solche Erfahrungen auch weiterhin machen können, dafür sollten sich nicht nur Kirchen und Vereine, sondern auch Eltern, Schulen und Politiker einsetzen.
„Ich sehe alte Menschen jetzt mit mehr Respekt", schreibt ein Junge nach einer Woche im Altenheim. Das ist ein Stück Herzensbildung. Und ich denke: daran sollten wir nicht sparen.

https://www.kirche-im-swr.de/?m=10596
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