SWR2 Wort zum Tag

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Menschen mit Behinderungen sollen in unserer Gesellschaft nicht benachteiligt werden - soweit werden Sie mir vermutlich zustimmen. Aber wenn Ihre Kinder auf dem Gymnasium in Erdkunde bald von einem blinden Lehrer unterrichtet werden sollen? Oder zwei junge Menschen mit geistiger Behinderung in die Nachbarwohnung einziehen, um dort selbstständig zu wohnen - und nur zeitweise von einem Betreuer unterstützt werden? Oder die neue Pfarrerin keine Arme hat? „Kann das gut gehen?", wird sich vielleicht der eine oder die andere dann fragen. Das kann ich nachvollziehen - der Gedanke ist einfach ungewohnt.
Inklusion beginnt im Kopf - so heißt heute das Motto des europäischen Protesttags zur Gleichstellung von Menschen mit Behinderungen. Das neue Schlagwort Inklusion - dahinter verbirgt sich noch mehr und anderes als mit dem Begriff Integration gemeint ist. Integration zielt darauf, dass sich Menschen, die anders sind, möglichst gut einfügen. Inklusion geht davon aus, dass es kein „normal" und kein „anders" gibt, sondern dass wir alle in unserer - mehr oder weniger ausgeprägten - Unterschiedlichkeit zusammen leben müssen.
Das kann schwierig sein, ohne Zweifel. Unter sich zu bleiben, ist einfacher. Manchmal ertappe auch ich mich bei dem Gedanken, dass es bequemer wäre, in einer Nachbarschaft zu wohnen, wo die meisten Menschen derselben Generation angehören, einen vergleichbaren Bildungsstand und ähnliche Wertvorstellungen haben. Vielfalt ist bereichernd - aber manchmal auch anstrengend.
Jesus war auch einer, der mit seinem inklusiven Lebensstil seine Jünger oft überfordert hat. Auch sie wären gerne öfter mal unter sich gewesen - statt immer wieder mit Menschen mit körperlichen oder psychischen Behinderungen, Kleinkindern und deren anstrengenden Eltern oder Zeitgenossen mit in ihren Augen völlig unangemessenen Moralvorstellungen konfrontiert zu werden. Aber Jesus hat sie davor nicht verschont. Und sie haben schließlich gemerkt: Diese anstrengenden Begegnungen bereichern uns. Sie erweitern unseren Horizont und verändern unser Verhalten.
Inklusion beginnt im Kopf. Da liegt nämlich die größte Hürde. Das Übrige ist oft unkomplizierter als erwartet: Der blinde Erdkunde-Lehrer beeindruckt die Schüler durch seinen multimedialen Unterricht und sein ausgezeichnetes Gehör. Die jungen Leute aus der Nachbarwohnung verstehen zwar den Brief vom Stromversorger nicht, tragen dafür aber der alten Dame von nebenan gerne mal die Einkaufstüten nach oben. Und wenn die Pfarrerin ohne Arme tauft, sieht das zwar anders aus, geht aber genauso gut.
Noch sind solche Beispiele leider selten. Aber es bewegt sich etwas. Inklusion beginnt im Kopf - und dann hoffentlich auch bald bei uns nebenan.

https://www.kirche-im-swr.de/?m=10594
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