Anstöße SWR1 RP / Morgengruß SWR4 RP

Anstöße SWR1 RP / Morgengruß SWR4 RP

Beim Aufräumen im Keller habe sie gefunden. Die Stützräder. Sie gehörten einmal an das kleine Kinderfahrrad. Das ist lange her.
Da hab ich mich auf die Kellertreppe gesetzt und erstmal tief Luft geholt. Tatsächlich, das alles war einmal. Die Kinder klein und doch so munter. Und wir waren bei einem Osterspaziergang durch den Park.
Und der Sohnemann vorneweg mit seinem kleinen Fahrrad. Mit Stützrädern.
Plötzlich hält er an, steigt ab, hält so das Rädchen von sich weg, als wollte er damit nichts mehr zu tun haben.
„Mach das ab!" hat er gesagt. Und die Stützräder gemeint.
Und das musste auf der Stelle sein.
Keinen Meter wollte er mit diesem Gefährt weiterfahren. Das hat einfach nicht mehr zu seiner Fahrtüchtigkeit gepasst. Stützräder waren ab sofort mit seinem Image nicht mehr vereinbar. Davon war er überzeugt.
Und seine Anweisung war klar: „Mach das ab!"
Und der Opa hat dann Werkzeug aus dem Auto geholt und schon war alles gut.
Da stieg er auf, fuhr los, gradewegs, ohne einen Wackler, wacklige Knie hatte nur ich, er war sofort auf und davon. Und so fährt er jetzt seit bald 30 Jahren.
Ohne Stützräder. Und ich sitz im Keller, hab die Dinger in der Hand und bin einfach nur dankbar.
Da bringen wir unsere Kinder schon bei der Taufe zu Gott und bitten um Stütze und Halt, damit sie das Gleichgewicht im Leben finden, die Balance auch, dass sie nicht fallen, da und dort, und wenn, wieder aufstehen lernen und nicht aufgeben.
Und doch können wir ihnen nur Stütze sein auf Zeit, sind begrenzt zuständig.
Irgendwann müssen die Stützräder ab und sie radeln uns davon, stehen auf eigenen Beinen, denken ihre eigenen Gedanken, fahren auf eigene Wege ab.
Zu früh loslassen, wäre lieblos, zu spät aber auch.
In der Seelsorge habe ich viele kennen gelernt, denen ihre Eltern nie erlaubt haben, ohne Stützräder zu fahren.
Das ist schlimm und verletzt, kränkt und macht krank.
Wir kommen auf die Welt, um bald ohne Stützräder davon zu fahren. Bei der Taufe bekommen wir schon die Fahrerlaubnis von Gott, der uns zutraut, unseren eigenen Weg zu finden.
Und alle, die uns dabei helfen, Eltern, Paten, Großeltern, Freunde, sie sind nur solange zuständig, wie es aufhilft, voran bringt, Mut macht, das Rad ins Rollen und das Leben ins Gleichgewicht bringt.
Und dann heißt es BAHN frei!
Und Stützräder ab in den Keller.
Jetzt heb ich sie für die Enkel auf und freu mich schon, wenn wir im Park spazieren gehen.

https://www.kirche-im-swr.de/?m=10508
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