SWR3 Gedanken

SWR3 Gedanken

Die Frau klingt unsicher beim Erzählen. Ihr Vater ist vor wenigen Tagen verstorben, alt und hochbetagt und dement, sein Tod kam nicht überraschend. Überraschend war etwas ganz anderes: „eines Morgens", erzählt die Tochter, „wollte ich meinen Vater im Pflegeheim besuchen. Aber er war nicht in seinem Zimmer und das Bett war unberührt. Besorgt suchte ich den Pfleger und fragte, was mit meinem Vater geschehen sei.
‚Ach', sagte der, ‚schauen Sie doch mal bei Frau soundso im Zimmer nebenan'. Und dort war er tatsächlich, in enger Umarmung mit einer anderen Pflegeheimbewohnerinnen. Mein Vater! Mit 82. Und dement war er doch auch."
Sie weiß nicht, ob sie lachen oder weinen soll. Zögernd erzählt sie dann von der merkwürdigen Erfahrung den hinfälligen Vater noch einmal in einer solchen Rolle zu erleben. Als Liebhaber, der händchenhaltend mit seiner späten Freundin den Kaffee aus dem Schnabelbecher schlürft. Als gebrechlicher Alter, dem der Pflegedienst die Medikamente verabreichen muss. Als Vater, der immer mal wieder vergisst, dass er eine Tochter hat. Als Demenzkranker, der seine letzten Tage genießt wie einen einzigen blühenden Frühlingstag.
Dieser Eindruck ist der stärkste und macht es der Tochter am Ende leichter. Für die Trauerfeier hat sie ein besonderes Gotteswort ausgesucht: „Siehe, ich will ein Neues schaffen, jetzt wächst es auf, erkennt ihr's denn nicht?"
Die Tochter hat erlebt, wie dieses Neue schon in den letzten Lebenstagen ihres Vaters angefangen hat. Neues mitten im Alten!

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