SWR2 Wort zum Tag

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„Ich kann das einfach nicht fassen", sagt meine Tochter. Wir unterhalten uns beim Essen über die Katastrophe in Japan. Und sie fügt hinzu: „Ich kann mir schon dreitausend Tote nicht vorstellen. Und erst recht keine zehntausend oder mehr." Mir geht es da ganz ähnlich. Fassen kann ich nicht, was die Erdbeben und der Tsunami angerichtet haben. Fassen kann ich nicht, was das Drama um die Atomkraftwerke bedeutet. Immer neue Nachrichten über Tote und Vermisste. Immer neue Nachrichten über einen möglichen GAU in den Kraftwerken. Ganze Landstriche, die vielleicht auf lange Zeit unbewohnbar sind? Ich kann es längst nicht fassen. Alle Vergleiche hören sich falsch an. Alle Erklärungen klingen eher wie hilflose Versuche.
Fassungslos stehe ich da. Weil ich das Leid nicht begreifen kann, das Menschen erleben, die ihre Liebsten verlieren. Weil ich die möglichen Ausmaße einer atomaren Katastrophe mit Kopf und Herz einfach nicht bewältigen kann. Ich komme an meine Grenzen.
Es gehört zum religiösen Reflex, dass sich Menschen an Gott wenden, wenn sie die Fassung verlieren. Wenn sie an ihre Grenzen kommen. Wenn sie das, was passiert, einfach nicht packen können. Wenn der Rahmen gesprengt wird, indem bisher ganz gut gedacht und gelebt wurde. Deshalb richten Menschen seit Jahrtausenden ihre Gebete an Gott, wenn ihr Land überflutet wird, wenn es Krieg gibt, wenn die Erde bebt und Vulkane speien, wenn die Ernte verdorrt und segenspendender Regen ausbleibt.
Heute und in den letzten Tagen reihe ich mich ein in diese lange Kette von Menschen, die beten. Ich ringe um Worte, weiß oft genug gar nicht, was ich sagen soll. Ich bete vor allem darum, dass Gott all das fasst und umfasst, was ich nicht fassen kann. Dass all die, die in Japan von Erdbeben, Tsunami und atomarer Katastrophe bedroht sind, Hoffnung und Zukunft bleibt. Das hört sich gestammelt und hilflos an - und das ist es auch. Aber es hilft mir und vielleicht auch meiner Tochter, zumindest ein bisschen mit dieser unfassbaren Situation umzugehen. Ich bete: »Gott, sei bei den Menschen in Japan. Steh ihnen zur Seite. Und sei auch bei mir, in meiner Fassungslosigkeit.«

https://www.kirche-im-swr.de/?m=10266
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