SWR2 Wort zum Tag

SWR2 Wort zum Tag

»Ihr alle, die ihr des Weges vorüberkommt, schaut her und seht, ob ein Schmerz meinem Schmerz gleicht, der mir angetan wurde.« (Klagelieder 1,12) »Dahin ist unseres Herzens Freude, unser Tanz hat sich in Totenklage verwandelt. Gefallen ist der Kranz von unserem Haupt.« (Klagelieder 5,15-16)
Zeilen aus einem Gedicht, zweieinhalbtausend Jahre alt. Sie finden sich in der Bibel, im Buch der Klagelieder. Ein kaum bekanntes, schmales Buch in der Bibel. Es enthält lediglich fünf Lieder, gedichtet, als 587 v. Chr. in Jerusalem der Tempel zerstört wird. Zerstört, wie in diesen Tagen ganze Dörfer und Landstriche in Japan.
Klagelieder. Fremd klingt dieses Wort - und fremd klingt für mich auch der Ton dieser Gedichte. Klage. Ein Wort, das schon lange aus der Mode gekommen ist. Heute gibt es Menschen, die sich über Ungerechtigkeit beklagen, über ungerechte Zustände oder eine ungerechte Behandlung. Heute verklagen sich Menschen vor Gericht. Das war es aber auch schon. Dass jemand so klagt, wie in den Klageliedern, das habe ich noch nicht erlebt.
In den Klageliedern antworten die Autoren in starken Bildern auf Zerstörung und Tod: »... mein Auge fließt über in Tränen« (Klagelieder 1,16) heißt es. Oder: »... in Aufruhr ist mein Inneres. Zu Boden ist gegossen mein Gemüt.« (Klagelieder 2,11) Da schreien Menschen in tiefster Verzweiflung ihre ganze Not heraus. Sie schreiben Gedichte über diesen Schmerz, geben ihm eine Form. Und sie nehmen Unglück und Verzweiflung ganz ernst. In den Klageliedern gibt es keinen schnellen Trost. Keine leicht dahingesagten Worte der Hoffnung. Sondern allein die Klage über Vernichtung, Leid und Tod.
Solche Texte in der Bibel, das ist kaum zu glauben. Sonst finden doch gerade die biblischen Autoren immer wieder Trost in ihrem Glauben, fühlen sich in Gott geboren, auch im größten Elend. Für die Klagelieder gilt das alles nicht. Ganz im Gegenteil. Die Menschen fühlen sich Gott fern. Sie sind einsam in ihrem Glauben. »Ach, wie fern ist mir der Tröster, meine Seele umzustimmen« (Klagelieder 1,16) heißt es. Und: »Höre, wie ich stöhne, ohne Tröster bin ich.« (Klagelieder 1,21). Mich bewegt diese Klage. Und mich bewegt: In den Klageliedern geht niemand zur Tagesordnung über. Bis heute stehen diese Texte in der Bibel. Und erzählen bis heute davon, dass die Klage auch zum Glauben gehört. Die Fragen und die Verzweiflung gehören auch in den Glauben hinein. Ich darf und soll klagen.

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