SWR3 Gedanken

SWR3 Gedanken

Mit dem Zug unterwegs von hier nach da. Ein Bahnhof kommt in Sicht. Der Zug verlangsamt die Fahrt, ich sehe die ersten Häuser. Ich kenne diese Häuser. Von vorne allerdings. Prächtige Bürgerhäuser aus der Zeit, als das letzte Jahrhundert noch jung war. Sorgfältig restauriert sprechen sie von Reichtum und Wohlstand. Damals wie heute. Von vorne jedenfalls. Der Zug gleitet langsam an den Häusern vorbei.
Jetzt kommen sie von hinten in den Blick. Graue, schmutzige, vernachlässigte Gemäuer. Die Fensterrahmen sind morsch, die Balkongitter verrostet, der Sandstein bröckelt. Dieselben Häuser. Die Fassaden ein Bild des Reichtums, die Hinterhöfe zeugen von Alter, von Armut. Wie sehr man sich doch irren kann, denke ich.
Der Zug hält an. Menschen steigen aus und ein. Eine Frau setzt sich zu mir ins Abteil. Sorgfältig gelegte Frisur, perfektes Make-Up, edles Outfit. Sie beginnt, in einer Zeitschrift zu blättern. Aus den Augenwinkeln betrachte ich sie. Und entdecke den dunklen Haaransatz im blonden Haar und die zugepuderten Sorgenfalten auf der Stirn. Und die Schuhe, die schicken, haben abgelaufene Absätze.
Es geht ihr nicht gut, dieser Frau. Auch wenn sie sich alle Mühe gibt, das niemanden merken zu lassen. Die Fassade ist perfekt, aber der zweite Blick straft die Fassade Lügen. Wie sehr man sich doch irren kann, denke ich.
Der schöne Schein. Bei Häusern oder bei Menschen - oft sieht man nur die auf Hochglanz polierte Vorderfront. Aber das Innendrin und Hintendran, das sieht man nicht. Die traurigen Geschichten. Die üblen Erfahrungen. Die schlechten Zeiten. Weil man das auch nicht sehen soll. Wenigstens auf den ersten Blick.
Aber ich weiß auch, wie oft ich mir gewünscht habe, dass jemand einen zweiten Blick riskiert und sich von der Fassade nicht trügen lässt. Weil zu jeder Fassade ein Hinterhof gehört. Und zu jedem Menschen seine Geschichte. Und die ist eben meist mehr als schöner Schein.

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