SWR3 Gedanken

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„Wie mag sich der Tropfen fühlen, der das Fass zum Überlaufen bringt?" Ein Spruch auf dem Kalenderblatt. Gute Frage. Weil man sich über diesen Tropfen so gut wie nie Gedanken macht. Dabei ist die Welt voll von solchen Tropfen.
Zum Beispiel meine Tochter Emma. Die ist oft der Tropfen, der mein Fass zum Überlaufen bringt. Ohne es zu ahnen. Fegt das Glas mit Apfelsaftschorle vom Tisch. Und wird dermaßen ausgeschimpft. Als gäbe es nichts Schlimmeres als ein bisschen Pappapp auf dem Boden. Dabei bin ich eigentlich sauer, weil ich längst woanders sei müsste. Weil jemand am Telefon nicht besonders freundlich war. Weil mal wieder etwas nicht so klappt, wie ich das will. Aber woher soll Emma das wissen? Sie ist ja nur der Tropfen.
Der Tropfen, der das Fass zum Überlaufen bringt. Soll es auch woanders geben. Zum Beispiel die Mitarbeiterin, die einen harschen Anpfiff ihres Chefs abbekommt, weil sie zwei Minuten zu spät zum Termin erscheint. Aber dessen schlechte Laune hat schon eine lange Geschichte hinter sich. Die fing mit Zahnpasta auf dem Hemd an, ging über nörgelnde Kinder bis hin zu einem demolierten Außenspiegel auf dem Firmenparkplatz. Von all dem weiß die Mitarbeiterin nichts. Sie ist ja nur der Tropfen.
Wie mag sich der Tropfen fühlen, der das Fass zum Überlaufen bringt? Mies, um es mit einem Wort zu sagen. Weil an ihm etwas ausgetobt wird, was eigentlich woanders seinen Platz hätte. Aggressionsverschiebung nennt man das auch. Der Ärger entsteht hier und da, aber ausgetobt wird er woanders. Wo er eigentlich gar nicht hingehört.
 „Alles, was ihr wollt, dass euch die Menschen tun, das tut auch ihr ihnen," sagt Jesus in der Bibel. Ich mag nicht der Tropfen sein, der jemandes Fass zum Überlaufen bringt. Also werde ich mir umgekehrt auch Mühe geben: dass mein Fass gar nicht erst zum Überlaufen voll wird. Dass ich meinen Ärger dort austrage, wo er hingehört. Damit eben nicht irgendein armer Tropf der Tropfen ist, und ich das Fass, das die Fassung verliert.

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