SWR2 Wort zum Tag

SWR2 Wort zum Tag

Heute feiern die christlichen Kirchen den Weltgebetstag. Auf der ganzen Welt versammeln sich Frauen aus allen Konfessionen und beten und singen nach derselben Gottesdienstordnung. In diesem Jahr wurde der Tag von Frauen aus Chile vorbereitet unter dem Motto: „Wie viele Brote habt ihr?" Der Titel klingt etwas ungewöhnlich, weil er so mitten aus dem Zusammenhang einer Bibelstelle herausgerissen ist. Sie steht im Markusevangelium: Jesus spricht an einem abgelegenen Ort zu Tausenden von Zuhörern. Am Abend meinen seine Jünger, er solle die Menschen wegschicken, damit sie sich in der Umgebung etwas zu essen kaufen können. Doch Jesus ist anderer Auffassung: Die Jünger sollen den Menschen zu essen geben. Man glaubt, die Entrüstung in ihrer Antwort zu hören: „Sollen wir weggehen, (...) Brot kaufen und es ihnen geben, damit sie zu essen haben?" Und jetzt fragt Jesus: „Wie viele Brote habt ihr?" Die Jünger kommen dann mit fünf Broten und zwei Fischen. Jesus lässt die Menschen in Gruppen zusammensitzen, bricht das Brot und lässt die Jünger verteilen. Alle Menschen werden satt und es bleiben noch 12 Körbe mit Brot übrig.
Ich frage mich bei dieser Geschichte immer, ob das Wunder tatsächlich darin besteht, dass Jesus auf geheimnisvolle Weise Brot herbeizaubert. Die meisten Zuhörer Jesu dürften eher arm gewesen sein. An dem Tag, an dem sie bei Jesus waren, konnten sie zudem nicht arbeiten. Und jetzt bringt Jesus seine Jünger dazu, die paar Brote, die sie haben, für eine solche Menschenmenge bereit zu stellen. Ich stelle mir vor, dass dann alle noch mal in ihre Taschen gegriffen und etwas beigesteuert haben. Jesus bewirkt das Wunder, dass die Menschen miteinander teilen und darauf vertrauen, dass es schon für alle reichen wird, dass Gott ausreichend gibt.
Wenn Frauen aus Chile mit einer solchen Bibelstelle den Weltgebetstag gestalten, dann drängt sich mir die Situation unserer Welt auf, in der über 900 Millionen Menschen hungern, obwohl eigentlich auch genug für alle da sein müsste. Da könnte man das Motto des Weltgebetstages gut gegen uns richten: „Und wie viele Brote habt Ihr?" Doch den chilenischen Frauen geht es um die ganze Geschichte. Und um Erfahrungen, die sie nach dem Erdbeben im Februar 2010 gemacht haben. Eine Theologin schreibt: „Die Frage, die die (...) Frauen angesichts dieser Situation stellen, lautet: Wie viele Brote hast DU? Was kannst du teilen? Zeit, Geld, Talente, Arbeitskraft, die Gabe zuzuhören und Tränen zu trocknen (...)? Niemand kann sagen, er habe nichts zum Teilen. Niemand ist so arm, dass er nichts mehr geben kann, und niemand ist so reich, dass er nichts mehr annehmen kann." Und dann zitiert sie einen Gedanken, der mir in dem Zusammenhang einleuchtet: „Teilen, bis es wehtut". Die über 5000 Menschen bei Jesus werden nur satt, weil keiner etwas für sich behält und auch das Risiko eingeht, selber nicht ganz satt zu werden. Vielleicht ist es an der Zeit, mal nachzuschauen: Wie viel habe ich, das ich teilen kann?

https://www.kirche-im-swr.de/?m=10106
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