SWR2 Wort zum Tag

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Die Evangelien sind eine eigenartige Literatur. Sie erzählen,  wie Menschen Jesus von Nazareth begegnen, aber sie malen diese Begegnungen nicht aus. Sie lassen vieles offen - ja sie öffnen einen Raum, in dem wir selber als Leser aktiv werden. Da ist zum Beispiel die Erzählung von Zachäus. 
Jesus ist auf dem Weg nach Jericho. Er wird einem Menschen in dieser Stadt begegnen. Er heißt Zachäus, er ist Chef der Steuereintreiber, und er ist reich. Dieser Mann geht los, um Jesus zu sehen. Er sucht ihn, aber er sieht ihn nicht, Zachäus ist klein, und Jesus ist von einer dichten Menge umgeben. Da läuft er voraus und erklettert dort, wo Jesus vorübergehen muss, einen Baum, um ihn zu sehen. Als Jesus an diese Stelle kommt, schaut er nach oben und spricht Zachäus an: Beeile dich, steig herab! Denn ich muss heute bei dir bleiben, in deinem Haus. Zachäus beeilt sich, steigt herab und nimmt Jesus voll Freude auf. 
In dieser Begegnung spielt das Sehen eine auffallende Rolle: Suchen, Nicht-sehen-können, ein verstellter Blick und ein freier Blick und schließlich das Erblicken. Von Zachäus geht die Initiative aus, er sucht. Jesus muss ein Mensch sein, von dem sich andere, wie Zachäus, etwas versprechen, wenn sie ihn sehen - oder hören oder berühren. Zachäus sagt nicht, was er sich erhofft. Er handelt, um Jesus zu sehen, entschlossen und erfindungsreich, spontan wie ein Kind. Er möchte Jesus sehen - mehr nicht. Jesus ist es nun, der mehr möchte, der mehr sieht. Er schaut in den Baum hinauf und sieht den Wunsch zu sehen in Zachäus, dieses drängende und erfinderische Sehenwollen. Und er ehrt die Initiative, das Laufen, die Mühe, die Zachäus unternimmt, um ihn zu sehen. Jesus traut ihm diese Initiative, diese Eile noch einmal zu: „Ich muss heute bei dir bleiben, in deinem Haus", sagt er. Wieder hat Zachäus die Initiative, jetzt auf den Zuruf Jesu hin. Und noch einmal beeilt er sich  - und nimmt Jesus mit Freude auf. Doch, wer nimmt da wen auf? Jesus öffnet Zachäus einen Raum, indem er ihn anerkennt als einen Menschen, der nach Begegnung verlangt. Jesus schenkt ihm die Freude, Gastgeber zu sein, andere aufzunehmen und mit ihnen zu teilen. Jesus eröffnet Zachäus den Raum der Freiheit, er selbst zu werden. Er ist es also, der Gastfreundschaft schenkt, indem er um Gastfreundschaft bittet. Und dabei nimmt er sich noch einmal zurück, indem er den Willen eines anderen ins Spiel bringt: „Heute muss ich bei dir bleiben." So befreit er Zachäus zu einem völlig neuen Handeln.

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