SWR3 Gedanken

SWR3 Gedanken

Frau Sander würde sterben. So viel war klar. Ich sah es an ihrem Gesicht, an ihren Augen. Sie war auf der Reise in eine andere Welt. Wir haben uns seit einigen Jahren gekannt und die Angehörigen hatten mich gebeten noch mal zu kommen und mit ihr zu beten.
Wir standen also im Kreis rund um ihr Bett und wussten nicht, was sie noch mitbekam und was nicht. Ich schlug das Gesangbuch auf und wir sangen leise eines ihrer Lieblingslieder: Stern auf den ich schaue. Tränen flossen, aber kein Wunder geschah - oder vielleicht doch? Die Lippen der alten Dame bewegten sich. Mehr flüsternd als singend kamen die Worte des Liedes über ihre Lippen. Wort für Wort, leise - aber klar verständlich. Von der ersten bis zur dritten Strophe. Auswendig und fehlerfrei. Zwei Tage später war sie tot.
Wenn ich heute darüber spreche kriege ich noch immer eine Gänsehaut. Wie hat Frau Sander mit diesem Lied gelebt! Ich wusste, dass sie in ihrem langen Leben zu Kriegszeiten und auch später Dinge gesehen und erlebt hat, die man niemandem wünscht. Offenbar hat das Lied ihr so großen Halt gegeben, dass sie es in der letzten schweren Situation ihres Lebens immer noch im Herzen hatte - nämlich beim Sterben.
„To learn by heart", so heißt es im Englischen, wenn man etwas auswendig lernt - mit dem Herzen lernen. Das hat sie mit diesem Lied wohl getan.
Meine Konfirmanden und Konfirmandinnen lernen im Unterricht nicht mehr viel auswendig. Und auch sonst in der Pädagogik ist das kein wirkliches Thema mehr - auswendig lernen. Ich habe mir vorgenommen, daran etwas zu ändern, denn: Es gibt auch heute eine Menge Liedtexte, die es wert sind, mit dem Herzen gelernt zu werden - auch für Jugendliche

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