SWR2 Wort zum Tag

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Keine Ahnung, ob man heute im Gymnasium noch Sophokles liest. Der schrieb vor über 2000 Jahren: „Kein ärgrer Brauch erwuchs den Menschen als das Geld!" Wie Recht der Mann auf jeden Fall hat, berichtet ein Gymnasiastin, siebzehn Jahre alt.
Sie wollte in den Sommerferien ihr Taschengeld aufbessern und fand einen Job in einem Call Center. Warum auch nicht? Davon gibt es ja einige Tausend in Deutschland. Das verlotterte Büro im Frankfurter Bahnhofsviertel machte sie auf den ersten Blick etwas misstrauisch. Nach einer soliden Firma sah das jedenfalls nicht aus. In aller Kürze erfuhr sie vom Teamleiter, wie man hier zu arbeiten pflegte: Der Computer wählt irgendeine Nummer in Deutschland an und zeigt Name, Adresse, Geburtsdatum und Familienstand. Der Mitarbeiter des Call Centers stellt sich freundlich vor. Mit falschem Namen allerdings, wie ihr der Teamleiter einschärfte. Und dann wird's spannend. Der Angestellte soll dem Angerufenen mit einer Lüge die Kontonummer entlocken. „Frau Meier, Sie sind bei uns als Gewinnspielerin eingetragen..."
Die meisten Angerufenen reagieren darauf genervt, empört und legen gleich wieder auf. Aber ein paar bleiben immer auf der Strecke. Wie die alte Dame. Unter Tränen bat die Frau, man möge sie endlich in Ruhe lassen und nicht länger monatlich Geld von ihrem Konto abbuchen. Sie habe schon alles versucht, etwas dagegen zu tun. Die Gymnasiastin war geschockt. Die alte Frau tat ihr leid - aber der Teamleiter hinter ihr macht ihr deutlich: Für Mitleid ist hier kein Platz. Hier geht's nur ums Geld,  
„Kein ärgrer Brauch erwuchs den Menschen als das Geld!" schrieb Sophokles. „Es äschert ganze Städte ein, es treibt die Männer weg von Haus und Hof, ja, es verführt auch unverdorbne Herzen, sich schändlichen Geschäften hinzugeben; es weist den Sterblichen zur Schurkerei den Weg, zu jeder gottvergeßnen Tat!" Sophokles fügt hinzu: „Verdienen darf man nicht um jeden Preis, denn schmutzige Gewinnsucht führt bekanntlich ins Unheil öfter als in Sicherheit." 
Sämtliche Ethikkommissionen sind nie weiter gekommen als bis zu diesem Ratschlag: Verdienen darfst du - aber nicht um jeden Preis. Es gibt durchaus einen Unterschied, wenn es ums Geldverdienen geht. Dieses Call Center hätte der alte Sophokles sicher in die Rubrik „schmutzigste Gewinnsucht" eingetragen.
Nachts lag die Gymnasiastin noch lange wach, bis sie entschieden hatte: „Da mache ich nicht mit. Die Firma zeige ich an." Mit ihrem „unverdorbenen Herzen" hat sie gezeigt, woran wir Erwachsene uns immer wieder erinnern müssen: Nicht mitmachen bei einer „gottvergessnene Tat".  

vgl. Beitrag „Glücks"-Partner - Ein Tag als schwarzes Schaf im Call Center von Pauline Hildenbrand; FAZ 3. Februar 2011

https://www.kirche-im-swr.de/?m=10069
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