Anstöße SWR1 RP / Morgengruß SWR4 RP

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Es geschah eigentlich nur so am Rande, ein Gespräch im Vorübergehen, beim zufälligen Treffen. „Na, wenn wir uns begegnen, dann ist es immer hier auf dem Friedhof", sage ich zu der alten Dame. „Wo soll ich denn sonst noch hin gehen", lautet ihre Antwort, „hier sind doch die meisten, die ich gekannt habe." Sie sagt das nicht traurig oder resigniert, sondern ganz sachlich, eigentlich nebenbei. Ja, denke ich, irgendwann einmal ist das so, wenn ich das dementsprechende Alter erreiche. Zu Hause, in meinem Heimatort, gehe ich ein- zwei Mal im Jahr über den Friedhof, besuche das Grab meines Vaters. Anschließend schlendere ich durch die Grabreihen und finde überall Bekannte. Menschen, die ich in meiner Jugend als Erwachsene oder Alte gekannt habe. Ich erinnere mich an Anekdoten, Schrullen, Geschichten aus dem Dorf, an Lustiges und Trauriges. Und bei Menschen, die ich gut gekannt habe, die mir wichtig gewesen sind, da lege ich manchmal sogar die Hand auf die Graberde. Als könnte ich ihnen mit dieser Geste irgendwie noch einmal die Hand geben, quasi „Hallo, wie geht's?" sagen. Wenn ich dann gehe, behalte ich ein gutes Gefühl. Als hätte ich einem lebendigen Menschen einen Besuch  gemacht, der lange schon überfällig war. In der Zeitung habe ich gelesen,  dass es immer mehr Internetplattformen gibt, auf denen man sich als Verstorbener der Nachwelt präsentieren kann. Also eine Art facebook oder „wer-kennt-wen" für Tote. Da kann man dann die Lieblingsmusik von Herrn X nachhören, sieht, wie Frau Y vor dreißig Jahren ausgesehen hat und kann per Mausklick eine digitale Kerze anzünden. Ich finde das interessant. Immer mehr lassen sich auf anonymen Gräberfeldern oder in einem Friedwald beerdigen, aber im Internet will man mit Name und Gesicht „lebendig" bleiben, in Anführungsstrichen natürlich. Die Frage ist nur, wen das interessiert. Denn ich beobachte auch, dass viele junge Menschen die echten Friedhöfe generell meiden. Gräber besuchen ist nicht unbedingt „in". Aber ob der Mausklick in den digitalen Friedhof eine Alternative ist? Ich jedenfalls kann Sie nur ermuntern, jetzt am Wochenende mal einen längst fälligen Besuch zu machen und zwar ohne Maus und Tastatur. Vielleicht ein Blümchen oder eine Kerze als Mitbringsel besorgen. Und denen „Hallo"  sagen, die ein Stück unseres Lebensweges mitgegangen sind.

https://www.kirche-im-swr.de/?m=10063
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