Anstöße SWR1 RP / Morgengruß SWR4 RP

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 Heute beginne ich einmal den Morgen mit einem Abendgebet. Und das geht so: 

„Lieber Gott, ich liege
Im Bett. Ich weiß, ich wiege
Seit gestern fünfunddreißig Pfund.
Halte Pa und Ma gesund.
Ich bin ein armes Zwiebelchen,
Nimm mir das nicht übelchen." 

Der Text stammt von Joachim Ringelnatz, einem deutschen Schriftsteller, Kabarettisten und Maler. Der ist vor allem durch seine humoristischen Gedichte bekannt geworden. Und der Schalk, der aus seinem Kindergebetchen hervorschaut, der blitzt genau so aus den Augen des Dichters, wenn man Fotos von ihm aus den 20er Jahren des letzten Jahrhunderts betrachtet. Mal ganz abgesehen davon, ob man das kurze Gedicht als Gebet, als Wortspielerei oder was auch immer betrachtet, ich lerne was daraus. Es zeigt mir, wie man auch beten kann. Nämlich ganz einfach und direkt. So, wie einem der Schnabel gewachsen ist. Das Wichtigste ist, man betet überhaupt. Ich selbst bin mit vorformulierten Kindergebeten groß geworden. Meine Eltern haben abends am Bett gesessen und mit gebetet. Ich denke mal, dass auch dadurch für mich Gott ein Gegenüber geworden ist, mit dem ich reden kann. Nicht weil ich an Gott glaube, bete ich. Es ist eher umgekehrt. Weil ich von Kind an bete, hat Gott für mich Gestalt angenommen. Viele Menschen beten heute nicht mehr, auch weil sie nicht wissen wie. Da können kleine Kindergebete hilfreich sein: „Lieber Gott, heute war es nicht schön. Zuerst musste ich Blumenkohl essen, dann bin ich in den Matsch gefallen. Schlaf gut, lieber Gott". Wenn vorformulierte Gebete aus frommen Büchern nicht passen, hier findet man Alltag pur. Es kommt gar nicht auf tiefen Inhalt und fromme Worte an. Wichtig ist zunächst einmal, dass ich ein Ritual habe, das zu meinem Leben passt. Die Worte finden sich dann ganz von selbst. Das müssen auch viele Erwachsene erst wieder lernen. Wer sich darauf einlässt, der findet dann irgendwann auch zu den großen Gebeten der christlichen Tradition und kann sie mit Andacht beten. Doch für heute Morgen soll zum Schmunzeln noch ein Abendgebet von Joachim Ringelnatz genügen: 

Lieber Gott, recht gute Nacht,
Ich hab noch schnell Pipi gemacht,
Damit ich von dir träume.
Ich stelle mir den Himmel vor
Wie hinterm Brandenburger Tor
Die Lindenbäume.
Nimm meine Worte freundlich hin,
Weil ich schon so erwachsen bin.

https://www.kirche-im-swr.de/?m=10061
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