Anstöße SWR1 RP / Morgengruß SWR4 RP

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Gottverlassen! So nennt man eine Gegend, die unfreundlich, rau, und menschleer ist. Gottverlassen. Das ist aber auch ein Gefühl. Wenn man etwas Schlimmes erlebt hat. Wenn niemand ist da, um einen zu trösten oder zu helfen. Gottverlassen. Die Bibel erzählt von Jakob, dem es auch so ging. Jakob hat Angst. Er ist auf der Flucht vor seinem wütenden Bruder Esau. Den hat er um den Segen seines Vaters betrogen. Kein Wunder, dass er Angst vor ihm hat.
Die Nacht kommt, es wird dunkel. Und Jakob fühlt sich ganz besonders gottverlassen. Er schläft ein und träumt. Er träumt von einer Leiter, die bis zum Himmel hinauf reicht. Und da sind Engel. Die gehen auf dieser Leiter rauf und runter. Und irgendetwas ist da, das ihn tröstet. Er weiß nicht genau, was es ist. Aber am Morgen wacht er auf, reibt sich verwundert die Augen und sagt: „Gott ist an diesem Ort. Und ich wusste es nicht!"
Gott ist an diesem Ort, und ich wusste es nicht. Dieser Satz hängt über meinen Schreibtisch. Immer, wenn ich mit Menschen zu tun habe, die sich so gottverlassen fühlen, denke ich an den Satz. In der Klinik, in der ich als Pfarrerin arbeite, begegne ich oft Menschen, die Schlimmes durchmachen. Die sich ganz gottverlassen fühlen in ihrer Krankheit. Die kennen sie auch, diese Nächte voller Angst. Aber manchmal erzählt mir auch ein Patient: Ich hab es geschafft, irgendwie, ich hab doch etwas von Gottes Hilfe gespürt. Ich habe gebetet und auf einmal wurde der Nebel lichter, da fühlte ich mich leichter. Ich habe mich nach ein bisschen Menschlichkeit gesehnt und jemand hat mich wirklich in den Arm genommen. Und plötzlich war es anders als vorher. Nicht mehr gottverlassen.
Solche Geschichten machen mir Mut. Was sich gottverlassen anfühlt, muss nicht gottverlassen sein. Ich kann sie durchstehen, diese Orte und Zeiten von Gottverlassenheit. Vielleicht begegnet mir jemand, vielleicht vergeht sie bald, die Angst und Unsicherheit. Wie bei Jakob, der gesagt hat: „Gott ist an diesem Ort, und ich wusste es nicht!".

 

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