SWR2 Wort zum Tag

SWR2 Wort zum Tag

Manchmal packt sie mich, die Wut. Besonders an schlechten Tagen. Wenn ich unausgeschlafen oder gestresst bin. Wenn mir da jemand das Leben zusätzlich schwer macht, dann reicht das manchmal schon, um mich in Rage zu bringen. Sie kennen das vielleicht. Quengelnde Kinder oder vergessliche Mitmenschen können einen da zur Weißglut bringen - selbst wenn sie es gar nicht böse meinen.
Nach so einem Wutanfall fühle ich mich immer schlecht. Nicht nur, dass ich erschöpft bin. Ich habe meistens auch ein schlechtes Gewissen. Denn Brüllen und Türenknallen -  für einen halbwegs verantwortlichen erwachsenen Menschen kommt das als Verhaltensweise nicht in Frage, oder? Aber trotzdem sind sie da, die Wutanfälle. Sie lassen sich mal mehr und mal weniger gut unterdrücken - das Gefühl aber bleibt. Darf das sein?
Ich bin froh, dass die Bibel da sehr realistisch ist. In diesem Buch, in dem so viel von Tugenden und Geboten die Rede ist, haben durchaus auch die negativen Gefühle ihren Ort - besonders in den Psalmen. Die Psalmbeter halten mit ihren Emotionen nicht hinter dem Berg. Auch nicht mit Wut und Aggressionen. Über die Bosheit der persönlichen Gegner wird nicht nur geklagt. Nein, auf sie wird der Zorn Gottes herabbeschworen: „Gott, zerbrich ihnen die Zähne im Maul, zerschlage das Gebiss der jungen Löwen", tobt der Beter in Psalm 58.
Im Gottesdienst oder im Unterricht kommen solche Psalmen eher nicht vor, die kritischen Stellen werden ausgelassen. In der Bibel stehen sie trotzdem - und ich finde: mit Recht!
Natürlich ist es nicht gut, anderen einen Schlag ins Gesicht zu wünschen. Aber das behaupten die Psalmen auch nicht. Sie sind keine Tugendkataloge oder Gesetzestexte. Sie sind Gebete. Gebete von höchster Emotionalität, gesprochen von Menschen, denen das Wasser bis zum Hals steht, die verzweifelt sind. Sie machen deutlich: Irgendwo in den Abgründen unserer menschlichen Seelen finden sich solche Wünsche. Und es ist gut, sich dem zu stellen.
Allerdings nicht, indem man selbst gewalttätig wird. Die Beter schlagen ja nicht selbst zu, sondern überlassen es Gott, die Feinde zu strafen. So geben sie ihrer Wut Raum - und lassen ihr dennoch nicht freien Lauf.
Mir hilft es zu wissen: Wut und Aggressionen, ja sogar der Wunsch nach Rache gehören zum Leben dazu. Ich darf mich nicht davon bestimmen lassen. Aber ich brauche mich auch nicht dafür zu schämen.
Und es gibt einen Ort, wo auch solche Gefühle aufgehoben sind - im Gebet, bei Gott. Ich glaube: Er weiß damit umzugehen.

 

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