SWR2 Wort zum Tag

SWR2 Wort zum Tag

Nicht nur das Reden zeichnet den Menschen aus, sondern auch das Schweigen. Ein Mensch zeigt sein menschliches Gesicht nicht nur im Reden, sondern gerade auch im Schweigen. So sieht es jedenfalls der Schweizer Kulturphilosoph Max Picard.
Das Schweigenkönnen ist eine Gabe des Schöpfers an sein Geschöpf.
Für Picard steht außer Frage, dass der Mensch diese Gabe missbrauchen und verlieren kann. Ein Mensch kann das Schweigen verdrängen, weil er sich davor fürchtet, das Schweigen könne ihm zu einer beängstigenden quälenden Leere werden. Wer sich dem Schweigen nicht stellen will, steht in der Gefahr, das Geheimnis des Schweigens zuzu-schütten. Er übertüncht es durch viele Worte. Er deckt es zu mit Wortgetöse. Oder er er-stickt es in der Geschwätzigkeit. Picard nennt dieses Phänomen das „Wortgeräusch“.
Es ist das fortwährende Hintergrundrauschen, das unseren Alltag bestimmt. Ein ständiger Geräuschteppich, der verdeckt, dass das Wort aus dem Schweigen kommt.
Weil das echte menschliche Wort aus dem Schweigen geboren wird, hat das Wortgeräusch etwas Unmenschliches. Picard schreibt: „Der Mensch redet das Wortgeräusch gar nicht, sondern es umredet ihn, es dringt in ihn hinein, füllt ihn bis an seinen Rand hin aus, und das, was aus dem Rand des Mundes heraus fällt, das ist eben das Wortgeräusch.“
Wer mit immer mehr Wortmaterial angefüllt ist und davon voll gestopft bis an den Rand, muss es auch wieder loswerden. Dann gibt es aber auch kein gegenseitiges Zuhören mehr. Denn Zuhören setzt Schweigen voraus. So wartet jeder nur darauf, die bei ihm an-gesammelten Worte abladen zu können – sie aus dem Mund einfach auszuschütten.
Picards Überlegungen sind über sechzig Jahre alt – und dennoch brandaktuell. Das „Wort-geräusch“ ist für ihn kein sprachliches und auch kein rein akustisches Phänomen. Der Ma-schinenlärm, der unseren alltäglichen Betrieb umgibt, gehört ebenso dazu wie die Infor-mationsdichte, die jeden Tag in Gestalt von Nachrichten und Werbung auf uns eindringt.
Doch auch in der Welt des Wortgeräusches gibt es einen Ausweg zurück ins Schweigen. Er ist nicht leicht zu begehen, aber er ist sichtbar.
Ich habe das Schweigen bei einer Retraite in einem Kloster wiederentdeckt und empfand es als regelrecht befreiend, eine Woche lang nicht reden zu müssen. Auch das stille Be-trachten der Natur oder ein einfacher Spaziergang kann schon zu einer Schule des Schweigens werden. Dabei lerne ich das Schweigen neu und mache die Entdeckung: Schweigen ist eine Erholung des Sprechens. https://www.kirche-im-swr.de/?m=77
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