SWR4 Sonntagsgedanken

SWR4 Sonntagsgedanken

Teil I

Der 1. November ist nicht nur ein Tag der Kürbisse und Spukgeister. Er ist auch der Tag der Toten. Heute besuchen viele Menschen überall die Gräber ihrer Toten. Schon seit Jahrhunderten pilgern am ersten Novembertag Trauernde auf die Friedhöfe, schmücken die Gräber mit Grün und Blumen oder zünden eine Kerze an. Wer zum Friedhof geht, erinnert sich an einen anderen Menschen, an gemeinsame Erlebnisse und Erfahrungen. Um sich so erinnern zu können, ist der Abschied von dem Verstorbenen wichtig. Bettina Marloth-Claaß, evangelische Pfarrerin bei der Mainzer Hospizgesellschaft, macht Mut, sich Zeit für diesen Abschied zu nehmen:
Es gibt so ein Mythos, dass man Tote nicht berühren darf, wegen dem Leichengift. Ich habe selber erst lernen müssen, dass das nicht der Fall ist. Man darf Tote ruhig anfassen, man kann sie küssen und herzen und streicheln. Ich würde sagen, je plötzlicher der Tod war und je jünger der Verstorbene ist, umso drängender und wichtiger ist es, dass man viel Zeit hat, um diesen Toten zu verabschieden.
Länger als jeder Abschied dauert allerdings der individuelle Prozess des Trauerns. Manchmal Jahre. Doch auch eine solch lange Zeit der Trauer ist wichtig. Das betont auch Wolfgang Fischer, der in der evangelischen Johanneskirche in Mainz das Projekt eines „Trauer-Raums“ begleitet hat:
Wenn sie nicht trauern, dann verarbeiten sie den Schmerz, den sie in ihrem Leben haben nicht, und dann werden sie damit sehr unglücklich werden.
Schmerz und Leid prägen das Leben von Trauernden. Häufig stehen dann Freunde oder Bekannte vor der schwierigen Frage, wie sie mit dem Trauernden überhaupt umgehen sollen. Bettina Marloth-Claaß von der Mainzer Hospizgesellschaft:
Viele Menschen haben große Angst vor der Begegnung mit trauernden Menschen, weil sie denken, sie müssen jetzt was sagen oder sie müssen jetzt ne Antwort geben oder sie müssen was besonders Trostreiches von sich geben. Und weil sie das nicht können, weil sie instinktiv wissen, dass das gar nicht möglich ist, weichen sie den Trauernden aus. Und das ist für trauende Menschen eine äußerst schmerzhafte Erfahrung, zu merken, sie werden geschnitten.
So schwierig das ist: Am meisten hilft es den Trauernden, wenn ihre Freunde die Trauer aushalten. Sigrid Albus, ehrenamtliche Mitarbeiterin in der Mainzer Hospizgesellschaft, weiß das aus unzähligen Trauergesprächen:
Es verletzt die Trauernden, dieser vorschnelle Trost. Also, wie oft höre ich immer wieder: Ich kann mit dem oder der, mit der Familie nicht darüber sprechen, weil alle sagen: Es reicht doch jetzt; es ist lang genug her; jetzt guck nach vorne; das Leben geht weiter. Und wie diese Sprüche alle heißen. Und das verletzt die Menschen.
Wie aber verletzt man den Trauernden nicht? Was kann man machen im Umgang mit Trauernden? Sigrid Albus:
Einfach da sein, ich glaube, das ist das Allerwichtigste. Da sein und sagen: Ja es ist schlimm, was sie durchmachen, es ist furchtbar. Da hilft keine Beschönigung, nichts. Und ich glaube, das ist im Endeffekt die größte Hilfe.

Teil II

Am 1. November besuchen viele Menschen die Gräber ihrer Toten: Sie trauern um vielleicht um die Tochter, den Vater, den Großmutter oder einen guten Freund. Der Tod kommt nicht selten überraschend, schmerzhaft, erscheint ungerecht und bitter. Fragen drängen sich da auf: Welchen Sinn hat dieser Tod? Und drängender noch: Ist das gerecht? Oder: Wie kann Gott so etwas zulassen? Es gibt keine leichten Antworten auf solche Fragen. Bettina Marloth-Claaß, Mitarbeiterin in der Mainzer Hospizgesellschaft:
Das Allererste was man sagen kann ist: klagen Sie Gott an, fragen Sie ihn. Sie haben ein Recht dazu. Ihnen ist was widerfahren, man kann das einfach nicht verstehen. Sagen Sie das Gott. Klagen Sie ihn an. Der hält das aus. Und vor allem dem entgegenzuwirken, dass ist jetzt ne Strafe von Gott. So ist Gott nicht.
Die Klage ist ein wichtiger Ausdruck der Trauer. Und sie kann nicht mit billigen Antworten überspielt werden. Gerade in der tiefsten Trauer. Gott ist in der Trauerbegleitung auch nicht dazu da, die Trauernden zu vertrösten oder zu beschwichtigen. Das, hält Sigrid Albus, ehrenamtliche Mitarbeiterin in der Mainzer Hospizgesellschaft, fest, ist das falsche Heilmittel. Nähe ist wichtig – auch in religiöser Hinsicht:
Ich denke wichtig ist, dass die Menschen erfahren, dass sich das im anderen Menschen zeigt. Denn der da oben gibt nichts von sich. Sondern wir Menschen vermitteln das.
Menschen sind es, die von Gottes Nähe erzählen, indem sie da sind. Indem sie zeigen, was Nächstenliebe ganz praktisch heißen kann.
Dieser menschenfreundliche Glaube hilft mir bei der Begleitung Trauernder, sagt Bettina Marloth-Claaß, weil ich denke, dass hinter allem trotzdem ein Sinn gefunden werden kann. Nicht in jedem Fall, aber oft. Und oft erst im nachhinein, viel später, wenn die Situation ein Stück weit bewältigt ist.
Der Weg zur Bewältigung der Trauer ist häufig schmerzhaft und lang. Die Trauerbegleiterinnen der Mainzer Hospizgesellschaft machen dabei immer wieder eine Erfahrung: Vor allem das Gespräch hilft, mit der Trauer umzugehen. Doch dieser Prozess der Trauerbewältigung, dieses langsame Auftauchen aus der tiefsten Trauer, ist nur selten einfach. Sigrid Albus, die selbst eine Tochter verlor:
Ich weiß es von mir selber, wie ich mich erschrocken hab, als ich das erste Mal wieder gelacht habe. Oder irgendwie andere Gedanken hatte. Ja, es kam mir wie Verrat vor. Aber das gibt sich mit der Zeit. Und man beschäftigt sich ja auch damit. Der Tote lebt ja in einem weiter.
Eine Trauerbegleitung bietet Trauernden eine Chance. Eine Chance zur Veränderung: Trauerbegleitung führt häufig zu einem neuen Umgang mit dem Toten, mit sich selbst und der eigenen Trauer. Sie soll hinführen zu einem Leben, in dem das eigene Leben und der Tote einen Platz haben dürfen. Bettina Marloth-Claaß:
Ich glaube, wenn man merkt, dass man den verstorbenen Menschen nie in dem Sinne loslassen muss, dass man die Bedeutung, die der Verstorbene für einen selbst hat leugnet, dann kann man sich dem eigenen Leben wieder zuwenden. Man darf den Verstorbenen immer im Herzen behalten. Muss ihn im dem Sinne nicht loslassen.https://www.kirche-im-swr.de/?m=211
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