SWR2 Wort zum Sonntag

SWR2 Wort zum Sonntag

12NOV2006
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Was steckt dahinter? Das ist die Frage, nicht nur bei einem Zwischenfall, sondern bei allem, was ist. Die Dinge sind mehrschichtig. Man kann sie so oder so sehen. Nehmen Sie das Wasser: Wir können es auf seine chemischen Elemente hin analysieren und feststellen: H2O. Ist das alles? Wer nur H2O sieht, nimmt Entscheidendes nicht wahr. Stille Wasser gründen tief, man denke an das Fruchtwasser, an das Taufwasser .... Die Dinge sind mehr als ihr Material. Sie sind nicht hinreichend erfasst, wenn man nur ihre chemische Formel kennt oder sie nach ihrem Funktionswert beurteilt, ihren Tiefengrund aber unterschlägt. Die Transparenz des Sinnenhaften eröffnet Sinn. Gegenüber dem rein naturwissenschaftlichen Blick ist das ein Perspektivenwechsel, unbedingt notwendig, wie ich meine.
Der Mund ist nicht nur eine Öffnung, die dem Bauch Futter zuführt. Er kann zum Zeichen der Liebe werden. Der Kuss ist ein kultivierter Biss. Er ist darum auch sehr verletzlich. Er kann ins Beißen und Schlucken zurückfallen. Der Mensch kann im Küssen den anderen triebhaft verschlingen, er kann zum reinen Konsumisten werden. Es gibt zu denken, dass wir sagen: „Ich hab dich zum Fressen gern.“ Menschenfresser? Gott bewahre! Zugleich ist es ein Ausdruck höchster Liebe zu sagen: „Du in mir, ich in dir.“ Wer liebt und sich lieben lässt, möchte im anderen sein und den anderen in sich haben.
Die Zivilisation der Liebe (vgl. Johannes Paul II.) besteht darin, den anderen in seiner Freiheit und Unverfügbarkeit zu achten und ihn nicht zu schlucken. Wer ihn schlucken will, verfehlt ihn. Unmerklich hat sich dann entfernt, wonach er greift: die Freiheit und Eigenständigkeit der anderen Person. Wer sie „schmecken“ will, muss den Leib als den Raum dieser Freiheit achten und ehren. Im Menschen ist etwas, das sich widersetzt, wenn er geschluckt oder ausgelutscht werden soll.
Essen ist mehr als Nahrungsaufnahme, es kann zum Mahl werden: Die Speisen werden nicht als Nahrungsmittel verschlungen, sondern als Gaben der Schöpfung geachtet (das Tischgebet erinnert daran). Nicht nur der Körper erhält neue Kraft, sondern vor allem die Gemeinschaft der Gäste am Tisch. Der Mensch erfährt, dass er sich nicht sich selbst verdankt, sondern empfängt. Die Kultur des Mahles fordert uns heraus, das triebhafte Verschlingen zu überwinden und das Essen zum Mahl werden zu lassen, zur Gemeinschaft mit den Freundinnen und Freunden.
Wenn das Essen zum Mahl wird, trägt es bereits sakramentale Züge. Man ist nicht nur auf die Nahrungsaufnahme fixiert. Man schaut über den eigenen Tellerrand hinaus den Dingen und Menschen auf den Grund, sie werden zum Zeichen, zum Symbol. Die Eucharistie (und die Sakramente überhaupt) gehen von einem symbolischen Weltverständnis aus. Leibhaftige Dinge werden in ihrer Tiefendimension erschlossen. Sie sind nicht mehr nur Material zur Selbstdarstellung des Menschen, sondern Zeichen der Zuwendung Gottes in Jesus Christus, Ort seiner Gegenwart durch den Heiligen Geist. „In menschlichen Gebärden bleibt er den Menschen nahe“, singen wir (Gotteslob 639,4). Die Eucharistie, die wir heute am Sonntag feiern, ist wie ein Kuss Christi. Und wir dürfen ihn in der Kommunion erwidern: „Du in mir, ich in dir.“ https://www.kirche-im-swr.de/?m=193
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