SWR2 Wort zum Sonntag

SWR2 Wort zum Sonntag

Vergeben ja, vergessen nein! Ein heute 78jähriger Franzose aus dem kleinen Dorf Ancerviller in Lothringen hat so seine Gedanken und Empfindungen zusammengefasst, als er nach 60 Jahren den Ort wiedersah, an den er als Zwangsarbeiter verschleppt worden war. Am 7. November 1944 war sein Dorf von der Waffen-SS umstellt worden. Alle Männer zwischen 16 und 45 Jahren wurden aus ihren Wohnungen geholt und zusammengetrieben. Er selbst war damals gerade 16. Mitnehmen konnten sie so gut wie nichts. Den Männern in den umliegenden Dörfern ging es genau so. Etwa 400 Zwangsrekrutierte wurden nach einem dreitägigen Fußmarsch bei Saarburg in einen Zug getrieben und nach Heidelberg gebracht. Dort wurden sie wie Sklaven begutachtet und auf Betriebe, in die Landwirtschaft und auf verschiedene Einrichtungen verteilt. 23 von ihnen wurden einer kirchlichen Stiftung als Waldarbeiter zugeteilt. Sie bekamen eine Baracke mit zwei Räumen zugewiesen. Anfangs gab es keine Möglichkeit zu heizen. Später wurde ein Holzofen in die Baracke gestellt. Das Essen aus einem nahen Gasthaus war spärlich, mittags und abends jeweils eine dünne Suppe und etwas Brot. Am schlimmsten war die Kälte bei der Arbeit im Wald. Winterkleidung und entsprechendes Schuhwerk fehlten. Bewusst gequält wurde offenbar niemand. Gesten der Menschlichkeit blieben nicht aus; z. B. in der Freundlichkeit einer alten Frau, die einem jungen Zwangsarbeiter eine lange Hose und ein paar Schuhe brachte. Aber es war eine harte Zeit bis zur Befreiung durch die Amerikaner im April 1945. Und es war grausames Unrecht und wurde so auch empfunden!
Es hat lange gedauert, bis man sich der Menschen, die dieses Unrecht erlitten haben, erinnerte und nach ihnen forschte. Zu lange. Ein Lehrer hat mit seinen Schülern Namen ausfindig gemacht und erste Kontakte geknüpft. Eine Historikerin hat Einrichtungen der badischen Landeskirche und ihrer Diakonie durchforscht und kam auf 134 Beschäftigungsverhältnisse. Von jenen 23 ehemaligen Waldarbeitern lebten vor 2 Jahren aber nur noch 6! Sie hat die Landeskirche und mit ihr jene kirchliche Stiftung zu einem mehrtägigen Aufenthalt in Heidelberg und zum Besuch ihrer alten Wirkungsstätte eingeladen. Vier konnten mit Angehörigen der Einladung folgen. Es waren Begegnungen voller Erinnerungen und mit bewegenden Gesprächen. Das kleine Zeichen, mit dem die Landeskirche ihre Beteiligung am Unrecht der Zwangsarbeit bekannte und dem, was nicht wieder gut zu machen ist, etwas Gutes hinzufügen wollte, wurde verstanden und angenommen. Vergeben ja, vergessen nein – damit war auf den Punkt gebracht, was in der Begegnung mit den wenigen Überlebenden der französischen Zwangsarbeitern zu spüren war und was sich in persönlichen Begegnungen mit ihnen in der Folgezeit dann fortgesetzt hat.
Vergessen nein – der heutige Volkstrauertag will dem Vergessen wehren. Er erinnert an die Toten der Kriege, an die Opfer der Gewalt, an Zwangsarbeiter mit noch schlimmerem Schicksal als dem der Lothringer, an die in den Konzentrationslagern Ermordeten, an Flüchtlinge und Heimatvertriebene, an das ganze Leid, das Menschen einander zufügen konnten – und, wie täglich die Nachrichten melden, immer noch zufügen. Die Erinnerung soll helfen, zur Vernunft zu kommen, gemeinsame Lösungen in Konflikten zu suchen, dem Hass gegen Andere und Andersartige zu wehren und Angst vor ihnen abzubauen, immer wieder Wege zur Versöhnung zu gehen. Das fängt im Nahbereich des Lebens an und muss sich auch in politischen und wirtschaftlichen Entscheidungen und Strukturen fortsetzen. Und es braucht Zeichen, die neues Vertrauen schaffen und Beziehungen stiften, Zeichen, die dann auch zu dem „Vergeben ja“ helfen können https://www.kirche-im-swr.de/?m=17
weiterlesen...