SWR2 Wort zum Tag

SWR2 Wort zum Tag

„Alles hat seine Zeit.“ So beginnt der wohl bekannteste Text aus dem alttestamentlichen Buch Kohelet. Im Anschluss daran zählt der Autor ganz verschiedene Zeiten auf: „Eine Zeit zum Gebären und eine Zeit zum Sterben, (…) zum Niederreißen, zum Bauen, (…), zum Behalten und zum Wegwerfen. Der Text ist bewusst komponiert: sieben Vierergruppen von Zeiten sind genannt. Sieben ist die Zahl der Vollkommenheit und die Vier steht in der Bibel für den Kosmos. Der Autor sagt damit in der Sprache seiner Zeit , dass es tatsächlich für alles und jedes eine Zeit gibt. Lebensentscheidendes wie Geburt und Tod, aber auch ganz Gewöhnliches wie Suchen und Verlieren, Schweigen und Reden. Und es kommen ganz realistisch auch Dinge vor, die man sich nicht wünscht, die aber geschehen, für die es auch Zeiten gibt: Töten und Heilen, Krieg und Frieden. Immer wieder drängt mich das Buch Kohelet, mir Gedanken über die Zeit zu machen. Zeit als Frist z.B.: es gibt eine Zeit, wo man hasst, aber die geht auch wieder vorbei, dann kommt die Zeit des Liebens. Auch wenn ich es mir in dem Moment nicht vorstellen kann: Der Krieg ist irgendwann vorbei und dann kommt wieder eine Zeit des Friedens. Kohelet versucht einzufangen, wie Menschen – auch heute noch – manche dieser Zeiten erleben: als etwas, das über mich hereinbricht. Ich bin diesen Zeiten ausgeliefert. Ohnmächtig muss ich manchmal warten, bis der richtige Augenblick für etwas kommt. In der Landwirtschaft beispielsweise kann ich nie sicher sein, ob der ausgewählte Tag für den Beginn der Heuernte der richtige ist. Martin Luther hat das in seiner Bibelausgabe zu der Randbemerkung veranlasst: „Wenn das Stündlin nicht da ist, so richt’ man nichts aus. Man thu wie man will. Wenn’s nicht sein soll, so wird nichts draus.“
Heute ist das immer noch nicht anders, häufig sind wir bestimmten Zeiten ausgeliefert. Umso wichtiger finde ich es, Zeiten auch bewusst zu gestalten, bei denen wir etwas ausrichten können. Schöne Zeiten wollen gelebt und nicht nur für spätere Erinnerungen gefilmt oder fotografiert werden. Und bei manchen Zeiten kann ich ja auch entscheiden, von wem oder was ich sie bestimmen lassen will. Am Sonntag muss ich mich und andere nicht auch noch dem Diktat der Arbeitswelt ausliefern. Den Advent will ich mir nicht von Geschäftemachern bestimmen lassen, der fängt nicht nach den Sommerferien an. Alles hat seine Zeit. Oft muss ich warten, bis die richtige Zeit kommt. Wenn ich gerade nur traurige Augenblicke erlebe, kann es aber auch Trost bedeuten, es werden wieder andere Zeiten kommen.

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