Anstöße SWR1 BW / Morgengedanken SWR4 BW

Anstöße SWR1 BW / Morgengedanken SWR4 BW

25NOV2006
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Aufstehen. Aufstehen ist etwas ganz Alltägliches. Aufstehen ist der Anfang vom Tageslauf, weil unsere Bestimmung nicht das Liegenbleiben ist.
Bewusst wird einem das vor allen dann, wenn es nicht geht, wenn man krank ist und über Tage oder Wochen unfreiwillig flach liegt. Danach zum ersten Mal wieder an der Bettkante sitzen und mit den Fußsohlen Bodenkontakt haben – das ist dann wie ein Festtag, ein Zeichen dafür, dass es aufwärts geht. Aufstehen. Jeder Mensch ist in seinem ersten Lebensjahr fast pausenlos im Training, um aus der Waagrechten in die Senkrechte zu kommen. Ich erinnere mich noch lebhaft an die Zeit, als unsere Kinder sich an allen Möbelstücken hochzogen. Besonders fasziniert war ich, wenn ein Kind es zum ersten Mal geschafft hatte, ohne Hilfe zu stehen. Wie ausdauernd es sich darin übte. Fiel das Kind zurück auf den Po, rappelte es sich gleich wieder hoch. Stand der kleine Wicht dann für einen kurzen Moment freihändig da, strahlte er übers ganze Gesicht aus Freude über den gewonnenen Selbststand. Aufstehen – auf eigenen Füßen stehen – einen Standpunkt einnehmen – Widerstand leisten gegenüber dem, was niederdrückt und klein machen will – ein Trainingsprogramm fürs ganze Leben. Manchmal wünsche ich mir dabei die Unbekümmertheit eines kleinen Kindes: sich fallen lassen, zurückstecken, ohne dass die Ordnung zerbricht; nicht immer oben auf sein müssen, weil ich mich getragen weiß von dem, der mich hält und aufrichtet.
Marie-Luise Kaschnitz schrieb dazu folgendes Gedicht:

Manchmal stehen wir auf stehen wir zur Auferstehung auf.
Mitten am Tage
mit unserem lebendigen Haar mit unserer atmenden Haut.
Nur das Gewohnte ist um uns.
Keine Fata Morgana von Palmen mit weidenden Löwen und sanften Wölfen.
Die Weckuhren hören nicht auf zu ticken, ihre Leuchtzeiger löschen nicht aus.
Und dennoch leicht
und dennoch unverwundbar geordnet in geheimnisvoller Ordnung
vorweg genommen in ein Haus aus Licht.


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