Anstöße SWR1 BW / Morgengedanken SWR4 BW

Anstöße SWR1 BW / Morgengedanken SWR4 BW

26JAN2023
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Es ist doch so: Man erlebt immer dann etwas Schönes, wenn man es gar nicht erwartet. Und bei mir ist das manchmal sogar so, dass ich ausgerechnet dann ganz schön überrascht werde, wenn etwas so gar nicht nach meinem Plan verläuft.

Ich habe Feierabend gehabt, bin raus aus dem Bahnhof und wollte meinen Heimweg durch die Stadt einfach nur rasch hinter mich bringen. Die Fußgängerampel ist aber wie selbstverständlich rot und so muss ich warten. Wenigstens habe ich meine Kopfhörer dabei und kann Musik hören. Doch, wie könnte es auch anders sein, ich werde gestört. Jemand spricht mich von der Seite an. Und ich frage mich nur, ob die Person nicht sieht, dass ich Kopfhörer aufhabe und gerade abschalten möchte. Für mich sind Kopfhörer ein Zeichen, dass da jemand gerade was Spannendes hört oder einfach nicht reden möchte. Ich ziehe einen Ohr-Stöpsel raus. In welche Richtung es zum Marktplatz geht, will der Typ in meinem Alter wissen. Weil ich tatsächlich in dem Augenblick keine Lust auf eine lange Beschreibung habe, die Ampel grün wird und ich ohnehin in die Richtung laufe, sage ich ihm einfach nur „Mir folgen“. Gesagt, getan. Der Typ läuft neben mir her und weil alles andere merkwürdig wäre, versucht er natürlich ein Gespräch anzufangen. 

Ich lasse mich darauf ein. Er findet Esslingen sehr schön. Er fährt sehr gerne von Stuttgart rüber. Heute trifft er sich sogar mit jemandem, um die schönen Fachwerkhäuser der Altstadt zu zeichnen. Erst jetzt bemerke ich, dass er entsprechend dafür ausgerüstet ist. Und wie wir so weiter über die schönen Seiten von Esslingen reden und welche Ecken uns besonders gut gefallen, finden wir sogar heraus, dass wir uns eigentlich kennen könnten. Er ist nämlich der Freund einer Freundin! Zufälle gibt’s. Hätte ich mich nicht auf meinem Heimweg von ihm stören lassen, hätte ich einen der besten Freunde einer Freundin nicht kennengelernt.

Und so etwas ist mir schon ein paar Mal passiert. Menschen oder kleine Dinge sind mir über den Weg gelaufen, die mich in meinen Alltagtrott unterbrochen haben und mir etwas Schönes gezeigt oder beschert haben. Der katholische Theologe Johann Baptist Metz hat einmal gesagt: „Die kürzeste Definition von Religion ist Unterbrechung.“ Es geht also darum, dass ich bereit bin, mich immer wieder anstoßen zu lassen. Und so kommt es mir in diesen Begegnungen dann auch vor. Aber das geht nur, wenn ich nicht nur Augen für mich habe. Deshalb versuche ich inzwischen aufmerksamer meine Wege zu gehen. Weil: wer weiß, wen oder was ich ansonsten verpasse.

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