SWR3 Gedanken

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06DEZ2022
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Heute um die Mittagszeit schleiche ich wieder heimlich durch die Hintertür in den Kindergarten. Ich werde den alten Samtvorhang um die Schultern legen und den Wattebart verfluchen: erstens weil das Gummiband hinter den Ohren einschneidet, und zweitens weil ich ständig Flusen zwischen den Zähnen habe.

Ich erinnere mich noch gut daran, wie der Nikolaus zu mir selbst gekommen ist. Meine Gefühlswelt war immer ein wilder Mix: einerseits hab ich mich auf die Süßigkeiten gefreut, andererseits hatte ich ganz schön die Hosen voll vor der Rute und den peinlichen Offenbarungen aus dem Goldenen Buch.

Irgendwie passt diese Mischung zu dem, was vom echten Bischof Nikolaus überliefert wird. Einerseits soll er die Güte in Person gewesen sein. Er hat einmal eine ganze Stadt vor dem Hungertod gerettet, indem er einem Schiffskapitän eine Getreideladung abgeschwatzt hat. Aber er konnte auch ruppig werden. Immer dann nämlich wenn es darum ging, Unrecht aus der Welt zu räumen. Einem Henker ist er mal ganz schön grob gekommen. Hat ihn und seinen korrupten Gouverneur beschimpft und davon gejagt, weil sie gerade dabei waren Unschuldige hinzurichten.

Mal knurrig und mal herzensgut - aber immer hat der Original Bischof Nikolaus einem Ziel gedient. Und das scheint der wahre Kern der Legenden und Geschichten zu sein: Er hat Menschen zu ihrem Recht verholfen.

Ich glaube, ich werde nachher im Kindergarten wieder mal ein sehr sanftmütiger Nikolaus sein. Ohne Rute – dafür aber mit einem Samtvorhang um die Schultern und Watteflusen zwischen den Zähnen.

https://www.kirche-im-swr.de/?m=36683
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