SWR4 Feiertagsgedanken

SWR4 Feiertagsgedanken

03OKT2022
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Der Satz ist inzwischen legendär: „Jetzt wächst zusammen, was zusammen gehört“. Willy Brandt hat ihn am 10. November 1989 in Berlin gesagt. Es war der Tag nach dem Mauerfall. Ein Gänsehautmoment. Und seitdem ist tatsächlich ja auch viel zusammengewachsen zwischen den beiden Deutschlands. So hat etwa meine Tochter, die einige Jahre nach dem Mauerfall geboren worden ist, im Osten Deutschlands studiert. In meiner Jugend unvorstellbar. Sie dagegen kennt nur ein einziges Deutschland. Und dennoch erzählt sie mir immer wieder, dass dort manches noch immer anders ist. Und dieses „Anders“, das merke man halt auch im Alltag. In Begegnungen mit den Leuten. In der Art, wie Menschen im Westen und Menschen im Osten auf das eigene Leben schauen. Daran, wie sie über politische Abläufe denken und was sie sich von der Politik erwarten. Und nach wie vor sprechen manche ja von „wir“ und „die“, oder gar von „denen drüben“, von „Wessis“ oder „Ossis“. Machen schon durch ihr Reden klar, dass es da deutliche Grenzen gibt. Auch mehr als 30 Jahre später gibt es offenbar noch jede Menge, das zusammenwachsen könnte. „Zusammenwachsen“, das ist in diesem Jahr das Leitwort des Tags der Deutschen Einheit.

Allerdings ist es ein Thema, das sich bei weitem nicht nur auf West oder Ost beschränkt. Mir kommt es manchmal so vor, als ob die Gesellschaft, also wir alle, eher weiter auseinanderdriften. Als ob wir uns zerlegen in Gruppen und Grüppchen, die kaum noch miteinander sprechen können. Weil viele sich in ihren Blasen häuslich eingerichtet haben. Oft im Digitalen. Ist irgendwie ja auch verständlich. Da treffe ich genau die Menschen, die ich mag und von denen ich weiß, wie sie ticken. Die sich für dieselben Dinge interessieren wie ich. Wir sind uns einig darin, was wir mögen und haben dieselben Themen, über die wir uns aufregen. Im Prinzip ist das auch in der Kirche nicht anders. Wenn ich mir etwa meine Katholische Kirche anschaue, dann sehe ich auch da weit auseinanderliegende Ansichten, die nur schwer vereinbar sind. Über die Frage, welche Rolle Frauen in der Kirche spielen sollen. Wie mit vielfältigen sexuellen Orientierungen umgegangen werden soll. Darüber, wie das Evangelium auch in Zukunft sinnvoll verkündet werden kann. Dabei gibt es in einer Rede Jesu einen ziemlich klaren Satz:  Alle sollen eins sein. (Joh 17,21) Gemeint sind damit alle Menschen, die an ihn glauben. Alle Christinnen und Christen also. Doch auch die, so scheint es, bekommen es nicht wirklich hin. Und das schon seit mehr als zwei Jahrtausenden. Die Frage ist also, was das sein kann: Eins sein. Und wie das gehen soll mit dem Zusammenwachsen.

Vom „Zusammenwachsen“ ist heute, am Tag der Deutschen Einheit, viel die Rede. Ich frage mich manchmal allerdings, ob ich das auch immer will? Will ich mit Leuten, die mir innerlich zutiefst suspekt sind, überhaupt irgendwie zusammenwachsen? Eins werden sogar, wie es sich die Bibel von den Christinnen und Christen wünscht? Ein Herz und eine Seele sollen sie in der allerersten Christengemeinde gewesen sein. So heißt es jedenfalls verklärend in der Bibel. Mal abgesehen davon, dass sicher schon bei den ersten Christen nicht nur heile Welt war, hat es die große, traute Einigkeit nie gegeben. In der Gesellschaft nicht und auch nicht in der Kirche. Weil wir Menschen halt so sind, wie wir nun mal sind. Grundverschieden eben. Und ich finde das auch gar nicht schlimm.

Zum Problem wird das ja erst, wenn ich mich nur noch in meiner Wohlfühlclique bewege. Wenn ich Menschen ausschließe und diskriminiere, nicht mehr bereit bin, zumindest ansatzweise zu verstehen, warum der Andersdenkende eigentlich so anders denkt. Wenn es nicht mehr möglich ist, miteinander zu reden, sich zuzuhören. Sich, wenn nötig, auch mal zivilisiert zu streiten.

Vor vier Jahren hatte die Redaktion der Hamburger Wochenzeitung DIE ZEIT die Idee, Leute zum Gespräch zusammenzubringen, die ganz gegensätzliche Ansichten haben. Entstanden ist daraus die Aktion „Deutschland spricht“. Sie läuft noch immer. Das Fazit eines Gesprächsteilnehmers bringt gut auf den Punkt, worum es letztlich gehen sollte: Wenn ich den Menschen sehe, der hinter der Meinung steckt, dann ändert das komplett die Situation für mich. Eine Erfahrung, die gerade auch einige Katholikinnen und Katholiken in den Diskussionen auf dem sogenannten Synodalen Weg machen. Er ist eine Reaktion auf die tiefe Krise, in der die Katholische Kirche in Deutschland steckt. Ein kirchliches Bullerbü wird auch er nicht hervorbringen. Das große Eins-Sein in Harmonie wird es nicht geben. Es bleibt wohl ein Ideal, ein in dieser Welt unerfüllbarer Wunsch. Und dennoch geschieht ja etwas, wenn wir aufeinander zugehen, uns austauschen, miteinander streiten. Vielleicht werden wir uns am Ende nicht einig sein. Mit unvereinbaren Positionen auseinandergehen. Und doch wird nichts mehr sein wie vorher, wenn ich mich intensiv bemüht habe, den anderen zu verstehen. Und wenn auch er sich intensiv bemüht hat, mich zu verstehen. Zusammengewachsen sind wir deswegen nicht. Aber näher gekommen sind wir uns schon. Und sind im besten Fall gerade darum ein kleines Stück menschlich miteinander gewachsen.

https://www.kirche-im-swr.de/?m=36282
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