Anstöße SWR1 RP / Morgengruß SWR4 RP

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03AUG2022
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„Ich war glaub ich, nicht anfassbar…“, sagt ein älterer Mann mit Zopf am Nebentisch zu zwei Freunden. Sofort denke ich an Missbrauch - schlimm genug, warum eigentlich. An diesem lauen Sommerabend in einem Lokal nahe am Speyrer Dom. „Nicht anfassbar.“ Ich höre nur Wortfetzen aus dem Männer-Gespräch. Aber es geht mir wie vielen in diesen Zeiten, man ist hellhörig bei dem Thema.

Offenbar war er eins der Kinder in der Engelsgasse – dem Kinderheim, das in die Schlagzeilen geraten ist – wurde aber selbst nicht missbraucht. „Mich hat aber niemand angefasst“, sagt er. Aber: Es fasst alle an, dieses Thema - und bleibt doch unfassbar. Was leiden die Kinder von damals bis heute. Und es leiden all diejenigen mit, die offen aufklären wollen, die auf Reformen drängen. Oder frustriert die katholische Kirche verlassen.

Warum spreche ich darüber, als evangelische Pfarrerin, darf ich das überhaupt? Lange war klar: nein, das ist Sache der anderen, der da drüben am Speyrer Domplatz – da wo das Bistum unserer Landeskirche genau gegenübersitzt. Psst, kehre vor deiner Haustür, hat es geheißen. Aber Menschen machen keinen Unterschied. Und: Der Kehricht der katholischen Kirche, so ein Zeitungskommentar, ist so groß, dass er auch vor die Türen der anderen Konfessionen gekehrt wird.

Und mehr noch: Das Thema Missbrauch geht uns Evangelische ebenso an. Auch bei uns gibt es Fälle sexualisierter Gewalt. Auch wir müssen das Unfassbare verhindern. Und viel mehr darüber sprechen. Wir haben viele Menschen verloren – auch, weil sie bei uns längst nicht mehr finden, was sie suchen. Das spüren wir jeden Tag. Täglich Austritte – aus Wurschtigkeit oder Wut. „Die müssen ganz neu anfangen in der Kirche, offen reden und nix auslassen, auch nicht, was sie Gutes tun“, sagt der Mann mit Zopf nun laut. Die anderen nicken. Ich ebenfalls.

https://www.kirche-im-swr.de/?m=35899
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