SWR2 Wort zum Tag

SWR2 Wort zum Tag

„Der Mensch sieht, was vor Augen ist, Gott aber sieht das Herz an“, heißt es in der Bibel. Der Mensch sieht, was vor Augen ist. Und er kann auch nur das zählen, was er sieht. In die Herzen all derer hineinschauen, die Heilig Abend hoffentlich in den Gottesdienst kommen, kann er nicht. Denn an Heilig Abend sind, so hoffe ich, die Kirchen wieder bis auf den letzten Platz besetzt. Und das, obwohl immer weniger Menschen der evangelischen und der katholischen Kirche angehören.

Vor einem halben Jahrhundert war das noch ganz anders. Da konnte man am 18. Dezember 1967 in einer Zeitschrift lesen.

Allerdings so richtig darüber gefreut hat sich damals auch niemand. „Bei der Hochzeit sind für viele Orgel, Pfarrer und Segen nur ebenso Zubehör wie Polterabend, Schleier und Blumen. "Es ist unmöglich die heidnischen Beweggründe zu überhören, die Brautleute bei der Anmeldung zur Trauung häufig vorbringen", hieß es in der Zeitschrift. Und man fragte sich, ob nicht bei vielen statt des echten Glaubens "nur ein Aberglaube, eine überkommene Tradition oder einfachhin ein geheuchelter Glaube existiert". Nicht wenige Pastoren und Priester seien sich nicht einmal mehr des rechten Glaubens all ihrer Amtsbrüder auf den Kanzeln und hinter den Kathedern gewiss.

Kein Wunder, eigentlich. Denn gleich nach Kriegsende hatten die Kirchen vielen belasteten Nationalsozialisten Vergebung gewährt. Die Kirchen füllten sich wieder. Die Kirchenleitungen reichten Gnadengesuche ein und zeigten ein deutliches Mitgefühl – für die Täter mehr, und für die Opfer weniger. Vielleicht kam Gott damals zu dem selben Schluss wie Nietzsche, der meinte: „Es gab nur einen Christen, und der starb am Kreuz.“

Der Mensch aber sieht und zählt, was vor Augen ist. Nur Gott hat Einblick in dieses Land zwischen Glauben und Unglauben, wo so viele Menschen mittlerweile sesshaft geworden sind. Sieht das Herz der Menschen an, das Herz der Getauften, der Ungetauften, der Über- oder Ausgetretenen, der Unentschiedenen, der Suchenden. Von daher sind Sie alle eingeladen, Heilig Abend in die Kirche zu kommen und: „O du fröhliche“ zu singen.

https://www.kirche-im-swr.de/?m=25565
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