Anstöße SWR1 BW / Morgengedanken SWR4 BW

Anstöße SWR1 BW / Morgengedanken SWR4 BW

Rottweil hat eine markante Silhouette. Ich sehe sie jeden Tag, wenn ich auf der Autobahn nach Hause fahre. Vor allem die Kirchtürme zeichnen sich in der Ferne deutlich gegen den Himmel ab. – Aber seit einiger Zeit stiehlt ein anderer Turm den Kirchtürmen die Show. Ein riesiger Turm, in dem Aufzüge getestet werden. Fast 250 Meter hoch und über 20 Meter breit steht der Koloss im Neckartal und zieht alle Blicke auf sich. Wer nicht weiß, dass sie da sind, kann die Kirchtürme dahinter ganz leicht übersehen. So sehr achtet man auf den neuen großen Turm.

Ich finde: Genauso wie die Kirchtürme, kann auch der Glaube leicht aus dem Blick geraten. Auf einmal sehe ich nur noch meine Arbeit, den Trubel in der Familie, mein Hobby … Und manchmal stehen auch die Sorgen vor einem wie dieser Turm im Neckartal. Und ich sehe nichts anderes mehr. Meine Erfahrung ist: Auch wenn es mir vielleicht ganz fern liegt. Gerade dann tut es gut, sich Zeit für den Glauben zu nehmen. Obwohl ich im Stress bin. Obwohl es anderes zu tun gibt. Obwohl es einfacher und bequemer wäre, sich irgendwie abzulenken.

Zeit für den Glauben finde ich im Gottesdienst. Die Kirchenmauern umgrenzen einen besonderen Raum, eine Art Schutzraum. Der Stress und die Aufgaben müssen draußen bleiben und mein Smartphone ist ausgeschaltet. In diesem Raum finde ich dann, was es nur noch ganz selten gibt: Zeit, über mich nachzudenken, über mein Leben, und über die anderen Menschen, und über Gott und die Welt. Im Gottesdienst bekomme ich eine neue Sicht darauf. Durch einen Satz aus einem Kirchenlied, durch ein Gebet, das jemand formuliert, durch einen Abschnitt aus der Bibel, den mir die Pfarrerin erklärt. Manchmal kostet es mich Überwindung, in den Gottesdienst zu gehen, und mir fallen viele andere Dinge ein, die ich stattdessen am Sonntagmorgen tun könnte. Aber wenn ich hingegangen bin, habe ich es eigentlich noch nie bereut. Gerade in unserer Zeit, in der so vieles meine Aufmerksamkeit will, tut es gut, einen Ort und die Zeit zu haben, zur Ruhe zu kommen. Das tut auch dann gut, wenn ich mich mal nicht so genau darauf konzentrieren kann, was vorne gesagt wird. Dann sitze ich einfach in meiner Bank und lasse die Gedanken schweifen.

In Rottweil soll eine Brücke gebaut werden. Sie soll den neuen Turm mit der Rottweiler Altstadt und ihren Kirchtürmen verbinden. Zu Fuß könnte man dann zwischen den alten Türmen und dem neuen Turm hin und her laufen. Ob die Brücke tatsächlich kommt, ist noch nicht entschieden. Aber die Idee gefällt mir. Denn beides gehört für mich zusammen: Das moderne Leben und der alte Glaube.

https://www.kirche-im-swr.de/?m=23223
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