SWR2 Wort zum Tag

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„Geben ist seliger als nehmen.“ Lange Zeit war mir diese christliche Lebenshaltung irgendwie verdächtig. In letzter Zeit nicht mehr. Ich glaube, diese Haltung wird immer wichtiger. Für Christen und Bürger.
Warum ist mir das „geben ist seliger als nehmen“ in Verdacht geraten?

Zum einen: Weil es nach „verzichten und Opfer bringen“ klingt. Wer so lebt, scheint genussunfähig. So wird Paulus, von dem dieser Satz stammt, oft auch dargestellt: Streng, hager, immer zukunftsorientiert. Und die Gegenwart?

Der zweite Verdacht wiegt schwerer: „Geben ist seliger als nehmen.“ Wie schnell kann das unglaubwürdig werden: Man verpflichtet andere zu dieser Haltung und sich selbst lässt man es derweilen gut gehen.

„Geben ist seliger als nehmen.“ Eine Haltung unter Verdacht, entweder selbst das Leben zu verpassen oder andere darum zu bringen. So habe ich lange gedacht.
Aber es ist an der Zeit, beide Verdachtsmomente zu entlarven und die Lebenskraft dieser Haltung freizulegen.

Den zweiten Verdacht entkräftet der Blick in die Bibel. Paulus stellt diesen Anspruch nicht an Bedürftige, sondern an die, die geben können. „Geben ist seliger als nehmen“ Damit geht er soziale Ungleichheit an. „Wir müssen hart arbeiten, damit wir uns auch um die Bedürftigen kümmern können,“ sagt er.

Wer kann, der gebe. Weil er damit Lebensmöglichkeiten eröffnet für andere, die es brauchen. Für Paulus ist undenkbar, dass in einer christlichen Gemeinde die einen gut leben, während die anderen verkümmern. Wir leben, weil wir einander Leben ermöglichen.

Ich finde, das lässt sich direkt auf eine moderne Demokratie übertragen: „Geben ist seliger denn nehmen“ übersetze ich in den Satz: Eine Demokratie lebt davon, dass wir uns nicht zuerst als ‘Konsumenten’ sehen, sondern als ‘Bürgerinnnen und Bürger’.

Konsumenten verstehen sich aufs „nehmen“, aufs kaufen, verbrauchen und genießen. Egal ob reich oder arm: „Frei konsumieren, dann bist du.“ Aber so wird Freiheit verkürzt.

„Bürger“ verstehen sich auch aufs „geben“. Darauf, teilzuhaben und Teilhabe möglich zu machen für alle. Demokratie und Freiheit sind keine Konsumgüter, die wir einfach nur so nehmen können. Das merken wir zur Zeit, weil Populisten sie aufs Spiel setzen. Wie verteidigt man sie? In dem ich wählen gehe und mich selbst zur Wahl stelle, meine Zeit gebe als Gemeinderätin, als Elternvertreter, als Vereinsvorstand, im Theaterförderverein, im Beirat des Hospizes usw. Indem ich aus der Komfortzone heraustrete. „Geben ist seliger als nehmen.“ Genuss ist da auch immer möglich.

https://www.kirche-im-swr.de/?m=22612
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