Anstöße SWR1 BW / Morgengedanken SWR4 BW

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„Vertrauen ist gut, Kontrolle ist besser“. Dieser Satz soll von Lenin sein. Und wie so oft haben Sprichworte einen wahren Kern. Trotzdem mag ich dieses Sprichwort umgekehrt lieber: „Kontrolle ist gut, Vertrauen ist besser.“ Warum, erzähl ich am besten in einer Geschichte, die mir vor kurzem passiert ist. Sie fängt damit an, dass ich dazu neige, Eintrittskarten, Bordkarten oder Zugtickets vor An- oder Eintritt zu verlieren. Und so steh ich letztlich am Bahnsteig, möchte auf mein Ticket schauen und – es ist weg. Ich hatte es doch gerade noch in der Hand als ich nach den Abfahrtszeiten geschaut habe. Der Zug fährt ein. In der Hoffnung, das Ticket dann doch noch zu finden, steig ich ein. Nix gefunden. Alles durchgesucht, Aktenmappe, Rollkoffer, jedes Fach, Manteltaschen, Hosentaschen – nix. Und da sitz ich nun ohne Fahrschein, mit einem Gefühlsmix aus Ärger, Ohnmacht und, ja, so etwas wie Angst vor Strafe. Und letztere treibt mich zu einem für mich ansonsten völlig fremden Gedanken: Mich zu verstecken, mich, wenn ich den Schaffner sehe, zufällig auf die Toilette zu begeben und zwar solange bis er an meinem Platz vorbei ist. In der Hoffnung, dass er mich dann nicht mehr kontrolliert, weil meine Fahrt von Mannheim nach Stuttgart nur eine starke halbe Stunde geht.

Kaum dass ich diesen Gedanken zu Ende gedacht habe, sehe ich den Schaffner kommen und mich aufstehen, Richtung Toilette. Der Schaffner ist eine Schaffnerin. Und als ich ihr näher komme, denke ich, „sag mal, spinnst du eigentlich? Du wirst dich doch jetzt nicht wirklich verstecken wollen?!“ Trete die Flucht nach vorn an, geh auf die Zugbegleiterin zu und beichte ihr mein Ungeschick. Und frage sie, ob sich durch meine Bahncard nicht nachweisen lässt, dass ich mein Ticket doch tatsächlich online gekauft habe. Nein, sagt sie, das gehe nicht. Und da steh ich nun, als ziemlich älterer Mann vor einer jungen Frau in Bahnuniform und fühle mich irgendwie nackt und ausgeliefert. Und was macht die bezaubernde junge Frau? Sie lächelt, hebt den Zeigefinger, ermahnt mich künftig besser auf mein Ticket aufzupassen und legt dann genau diesen Zeigefinger auf ihren Mund und sagt: Aber jetzt bitte niemandem erzählen, dass Sie ohne Ticket fahren.“ Ich bin erleichtert und beglückt über diese charmante Art von Vertrauen und verabschiede mich froh von ihr.  Keine 10 Minuten später, finde ich das Ticket. In der Brusttasche meines Hemdes. So nah am Herzen wie die Begegnung mit der freundlichen Zugbegleiterin…

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