SWR1 Begegnungen

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Wolf-DieterSteinmann trifft Dr. Robert Herr aus Dossenheim. Er lebt seit dem 8. Mai 1945 „befreit.“

„unwert?“
Eigentlich habe ich erwartet, er liegt im Bett, wenn ich komme. Das muss der 83 jährige seit 3 Jahren. Aber er empfängt mich am Tisch. Aufrecht sitzt er. Auch wenn ihm das körperlich weh tut. Sein Geist hält ihn aufrecht. Und Robert Herr überrascht mich mit seiner positiven Lebenseinstellung.

Ich fühle mich wohl, bin munter, bin fröhlich und tu einfach so, als wär ich gesund. Das habe ich mein Leben lang gemacht.

Er war nie gesund. Halbseitig gelähmt nach der Geburt, dann Kinderlähmung, mit 3 Jahren Hirnhautentzündung. Eigentlich hatte dieses Leben keine Chance. Nicht bei den Nazis.

Und dann war ich im Dritten Reich sogenanntes „lebensunwertes Leben“ und galt als „Vollidiot“. Seit ich fünf war, sollte ich in eines der Heime, von denen man damals schon sagte, da werden die Kinder umgebracht.

Das Leben in Robert war stark. Und seine Eltern haben für ihn gekämpft. Diesem Staat hat sein Vater einen Deal abgerungen.

‚Jetzt kämpf ich mit allen Mitteln. Aber wenn er zwölf ist und wider Erwarten immer noch lebt, dann gebe ich ihn ins Heim.‘ Und darauf hat sich die Stadtverwaltung eingelassen, dann durfte ich zu Hause bleiben, um da zu sterben.

Ich denke mir: Gegen unmenschliche Macht hilft Ducken und Bravsein nicht. Jesus hat mal gesagt: „Seid klug wie die Schlangen.“ So hat er überlebt bis zum 8. Mai 45, heute vor 71 Jahren. Für ihn fast ein zweiter Geburtstag.

Ich hab erkannt, dass nur dank der Trickserei meines Vaters ich noch überlebt hatte. Deswegen war es eine große Erleichterung, eine echte Befreiung als die Amis kamen. Ich wusste, jetzt werde ich nimmer umgebracht.

Erstaunlich was der Geist vermag, auch wenn der Körper gehandicapt ist. Nach der Befreiung Deutschlands ist Robert Herr richtig durchgestartet. Mit 22 war er schon fertig mit dem Jurastudium. Und ist Richter geworden. Nicht Pfarrer.

Theologie habe ich deswegen nicht studiert, weil ich nicht mir vorstellen konnte, wie man mit nur einer brauchbaren Hand das Abendmahl austeilen soll.

Später hat Robert Herr es ehrenamtlich oft ausgeteilt. Aber vielleicht war dieser Irrtum grade gut. – Wie sein etwas unmoralisches Leben für den Beruf: Das Schwierigste als Richter ist ja rauszukriegen: Wer hat was gemacht?

Ich war von 1945 bis 1948 Schwarzhändler. Da hab ich also wirklich gelernt, was Ganovenehre ist. Es hat mir viel genützt weil ich meinen Parteien und Zeugen auf den Kopf zugesagt habe: Das stimmt und das stimmt nicht! Weil ich alleine durch das Gespräch rausgefunden habe, was los war. Ich war, wie ich sagen kann, ein sehr guter Jurist und hab meinen Beruf wirklich geliebt.

Was für ein Leben. Von wegen „unwert“. Heute blickt er auf ein erfülltes zurück. Hat sich und anderen bewiesen ‚ich kann‘. Als Richter bis zum Bundesgerichtshof und auch ehrenamtlich. In der Kirchengemeinde und darüber hinaus.

Dann wurde ich zum Vorsitzenden des Kirchen-verwaltungsgerichts gewählt. Aber alles hat mir Spaß gemacht. Mir hat immer alles Spaß gemacht.

nichts ist unmöglich
Für die Nazis war sein Leben „unwert“ und mit fünf eigentlich schon vorbei. Nach der „Befreiung“ 1945, heute vor 71 Jahren, ist er durchgestartet. Vom Schwarzhändler bis zum Richter am BGH. Ehrenamtlich engagiert in der Richterausbildung und in der Kirche. 2 Kinder, 5 Enkel. Und glücklich.

Vielleicht ist der Erfolg, dass ich mein ganzes Leben lang fröhlich war trotz Schmerzen, trotz Behinderung, dass man, wenn man behindert ist, nicht alles selbstverständlich nimmt. Bei mir ist es halt so, ich kann mich über alles freuen. Und diese Gnade, die ich da habe, die ist unbezahlbar. Es war alles ein Wunder.

Unerwartbar. Das Leben ist ein Geschenk, auch mit seinen Handicaps. Gibt er mir zu denken und zu glauben. Aber die andere Seite der Medaille ist genauso wichtig. Dass man das Geschenk annimmt. Dafür braucht es auch andere. Seine Mutter hat eher beschützt, der Vater gefordert.

Seit ich klein war, sagte meine Mutter bei allem und jedem: Das kann der Kleine nicht. Und mein Vater sagte bei allem und jedem: Der Kleine kann alles!

Ich weiß, so könnte man Kinder auch überfordern. Aber es braucht wohl diesen Überschuss an Zutrauen in mein Kind. Damit es wachsen kann, über scheinbare Grenzen hinaus. Bei ihm hat es unglaublich gewirkt.

Man kann sehr viel mehr als man glaubt. Die meisten Menschen strengen sich nicht an. Wenn man behindert ist, lernt man notgedrungen alles Mögliche, was man eigentlich nicht kann. Also insofern ist der Satz aus der Bibel absolut richtig: ‚Die Kraft ist auch in den Schwachen mächtig.‘ Und vielleicht mächtiger als in den Starken.

Und damit meint er: Gottes Kraft. - Auch der moralische Kompass, der ihn im Leben begleitet hat, klingt nach Bibel. Und aktuell.

Jeden Tag beim Essen sagte mein Vater, Gerechtigkeit gibt’s nicht auf der Welt. Und dann machte er vier Teile aus dem Essen, die man auch mit der Apothekerwaage nicht gerechter hätte teilen können. Womit er uns beibrachte, es gibt keine Gerechtigkeit, aber man muss sich drum bemühen.

Darf man erwarten, dass etwas zurückkommt, wenn man sich so bemüht? Wenn ich ihn so sehe, scheint es. Mich hat es jedenfalls berührt, dass er sagt: ‚Ich habe ein gutes Leben.‘ Und dass er schätzt, wie seine polnische Pflegerin für ihn sorgt und die kleinen Zeichen ihrer 7 jährigen Tochter.

Die Nicola die jetzt zu mir kommt und mir Blümchen bringt oder bloß kommt und mich streichelt.

Zum Abschied gönnt mir Robert Herr noch die Erfahrung, die er erlebt hat: ‚Man kann viel mehr‘. Ich möge ihm aus dem Rollstuhl ins Bett helfen. Und ich kann, ohne ihm weh zu tun. Wie er gesagt hat: „Man kann mehr als man

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