Anstöße SWR1 RP / Morgengruß SWR4 RP

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„Wissen Sie, was mich an der Bibel stört?“ fragt mich eine Frau. „Da gibt’s so bedrohliche Stellen. Z.B. die, wo es heißt: Gott sucht die Schuld der Vorfahren heim, bis in die dritte oder vierte Generation. - Die können doch nichts dafür! Und sollen für die Schuld ihrer Väter aufkommen. – Was ist denn das für eine Gerechtigkeit!?“
Schwierige Frage, das mit der Gerechtigkeit. Aber vielleicht geht’s hier auch um was anderes. Um eine Art Ur-Erfahrung der Menschheit:
Dass vieles von dem, was unsere Vorväter und -Mütter getan haben, nicht ohne Folgen bleibt. Und dass wir dafür aufkommen müssen. - Auch für Dinge, die wir selbst nicht verursacht haben.  
Nehmen, wir mal die deutsche Vergangenheit: Es vergeht doch kaum ein Monat, in dem man nicht bei irgendwelchen Bauarbeiten auf eine alte Bombe aus dem letzten Weltkrieg trifft. Und ob wir nun wollen oder nicht: wir müssen dafür einstehen. - Für die Bomben. Und dafür, dass unsere Vorfahren sie verschuldet haben.
Immer wieder müssen nachfolgende Generationen die Schuld ihrer Vorfahren tragen. Ist das die Heimsuchung Gottes? Und wenn ja: Wie kann man sie beenden? Diese Schuldkette durchbrechen?
Ich glaube, der einzige Weg ist: die Verantwortung zu übernehmen. Auch für das, was wir selber nicht verbrochen haben.
Ich denke an Willy Brandt. Und wie er da, vor aller Welt, auf die Knie gefallen ist; vor dem Ehrenmal des jüdischen Gettos, damals, in Warschau. Einer, der nichts mit den Nazis zu schaffen hatte, der selbst ein Verfolgter war – der hat sich da, stellvertretend für alle, zu unserer Schuld bekannt. Und ist zum Symbol einer neuen Zeit geworden, der Annäherung zwischen alten Feinden.
Damals haben wir erlebt: wo Schuld anerkannt wird, ändert sich alles. Wo man sich vor den Opfern verbeugt, wird Versöhnung möglich.
Und da mitten drin, da ist für mich Gott: in diesem Geschehen aus Schuld und Einsicht; und Vergebung.
Und das hört ja nie auf: Heute tragen wir an der Schuld unserer Vorfahren. Und morgen sind es unsere Kinder, die von unserem atomaren Müll-Alptraum heimgesucht werden. Und vielleicht ist es das, was Gott von uns will:
Dass wir die Verantwortung übernehmen: für die Vergangenheit, die Gegenwart und die Zukunft. Und auch für die Fehler.

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