SWR4 Sonntagsgedanken

SWR4 Sonntagsgedanken

Heute ist Wahl. In der Ukraine zum Beispiel. Eine Wahl, von der dort alles abhängt. Ist die Demokratie stärker als das Chaos? Wie reagiert Putin auf das Ergebnis der Wahl? Welche Macht wird der neue Präsident überhaupt haben? Ist diese Wahl eigentlich bloß ein Witz?
Heute ist aber auch Wahl bei uns. Alle Bürger und Bürgerinnen über 18 dürfen heute ihre Stadt- oder Gemeinderäte, ihre Kreistage und das Europaparlament wählen. Ein Mädchen, das gerade 18 geworden ist, darf wählen. Ihre Mutter auch. Die Stimme eines Arbeiters zählt so viel wie die eines Fabrikbesitzers. Und Franzosen, Deutsche, Belgier und Engländer sitzen im selben Parlamentssaal. Vor 100 Jahren hätte man das für einen guten Witz gehalten. Da durften hier bei uns nur Männer wählen. Und die Franzosen galten als Erbfeinde.
Heute dürfen alle wählen und 28 Nationen sitzen nebeneinander im Europäischen Parlament. Vor 100 Jahren konnte man von so etwas höchstens träumen!
Die Wahl heute zeigt: Es gibt Träume, die sind wahr geworden. Vielleicht gibt das Hoffnung für die Ukraine. Einen Staat, der gerade auseinanderbricht.
Denn wenn ein Staat erst einmal zerbricht, dann wird es richtig schlimm. Ich habe Menschen aus Somalia und Syrien kennengelernt, die mir davon erzählen. Was geht es uns dagegen heute gut! Hier in Deutschland. Wie sehnen sich Menschen in Syrien oder der Ukraine nach solchen Verhältnissen wie bei uns!
Natürlich haben auch wir nicht das Paradies. Auch wenn das von Somalia aus wahrscheinlich so aussieht. Ein junger Mann aus Somalia erzählt mir: In seiner Heimat, da hat er immer Gott gefragt, warum es alles so furchtbar ist in diesem Land. Warum Jungen an Gewehren ausgebildet werden statt an Werkzeugen. Warum Frauen zwangsverheiratet werden können, wenn sie keinen Mann mehr haben. Und jetzt – sagt er – jetzt dankt er Gott, dass er in Deutschland angekommen ist.
Ich verstehe sehr gut, was er meint. Auch wenn ich mir kaum vorstellen kann, was er durchgemacht hat. Er erzählt, er hat sich darauf verlassen, dass Gott bei ihm ist. Auch in den Alpträumen, die er wirklich erlebt hat. Bei seiner abenteuerlichen Flucht in einem Schlauchboot übers Mittelmeer. Als er glücklich in Malta ankam. Doch dort hat man ihn und die anderen Flüchtlingen ins Gefängnis gesteckt. Und dann lebte er Monate lang auf der Straße.
Jetzt ist er in Deutschland. Und würde gerne hier bleiben und irgendwann seine Familie nachholen. Er arbeitet bei der "Tafel" mit und hilft einem anderen Flüchtling aus Somalia, der im Rollstuhl sitzt.
Wir beten beide, dass er hierbleiben kann. Doch jetzt soll er abgeschoben werden. Zurück nach Malta, wo man sich nicht weiter um ihn gekümmert hat. Seit vier Jahren ist er auf der Flucht und möchte endlich ankommen. Aber er hat keine Wahl. Andere entscheiden für ihn.

 Es ist ein großes Glück, wenn man eine Wahl hat. Daran habe ich Sie und mich hier in den SWR4 Sonntagsgedanken gerade erinnert. Dass wir heute in Deutschland wählen dürfen, das hat unser Leben viel besser gemacht. Davon konnten Menschen früher bloß träumen!
Da denke ich an den Traum, den ein Prophet in der Bibel aufgeschrieben hat: den Traum von einem neuen Himmel und einer neuen Erde.
Niemand wird mehr weinen und klagen, heißt es da. Die Menschen werden sich Häuser bauen und auch darin wohnen können. Sie werden Weinberge pflanzen und selbst den Ertrag genießen. Die Frauen gebären ihre Kinder nicht länger für eine Zukunft voller Schrecken. Und Gott sagt: Noch ehe sie zu mir um Hilfe rufen, habe ich ihnen schon geholfen.
Was für ein wunderbarer Traum! Ich sehe unsere schönen Häuser und die reichen Weinberge an der Mosel, am Rhein oder am Neckar. Ich sehe unsere Kinder, die in Frieden aufwachsen können. So sollte es sein – überall: in Deutschland, in Somalia, in Frankreich und in der Ukraine. Davon träumen Menschen überall.
Mein Bekannter aus Somalia erzählt mir aber von seinem Heimatdorf. Dort hat er mit einem Freund zusammen als Lehrer gearbeitet. Eines Tages kamen islamistische Krieger und verlangten, die Lehrer sollten den Kindern kein Englisch beibringen, sondern Arabisch. Und rechnen sollten sie nur mit arabischen Zahlen.
Die beiden Lehrer haben sich geweigert. Die Krieger haben dem Freund meines Bekannten in den Kopf geschossen und ihm selbst durchs Kinn. Sie haben ihn für tot gehalten, doch er hat schwer verletzt überlebt. Er konnte nach Hause kriechen. Als er nach Monaten wieder gesund war, riet sein Vater ihm, das Land zu verlassen. Das war vor vier Jahren. Seitdem ist er auf der Flucht.
Seit einem Jahr ist er in Europa. In meinem Heimatkontinent, den ich liebe. Und hier ist heute Wahl. Ich werde hingehen und die Leute wählen, die versuchen können, den Traum des Propheten umzusetzen: in Städten und Gemeinden und in Europa.
Aber ich fürchte, ein Wunsch wird offen bleiben, egal wie die Wahl ausgeht: dass Menschen, die sich zu uns flüchten, bei uns Sicherheit und Geborgenheit finden. Dass sie nicht zwischen den europäischen Ländern hin und hergeschoben werden, ohne dass ihnen jemand mal richtig zuhört.
Ich glaube: Hier hilft nur noch beten. Beten kann ganz vieles sein. Ich bringe vor Gott, was mich beschäftigt. Ich höre einem anderen Menschen zu, der mir seine Not erzählt, und versuche, mich in ihn hineinzufühlen. Ich kann das allein nicht tragen. Ich trage es vor Gott. Das gibt mir Kraft, auch etwas zu tun. Ich kann nicht die Welt retten. Aber mit meiner kleinen Kraft will ich alles tun, damit diese Welt etwas lebenswerter wird. Darum werde ich heute beten und wählen.

https://www.kirche-im-swr.de/?m=17629
weiterlesen...