SWR4 Sonntagsgedanken

SWR4 Sonntagsgedanken

Im Urlaub war ich in Paris. In der Métro ruft eine freundliche Stimme vom Band die Stationen aus. Saint Placide. Saint Sulpice. Saint Germain des-Prés. Die Métro-Stationen heißen nach Heiligen, von denen ich noch nie was gehört habe. Dann kommt Saint Michel. Der heilige Michael – den kenne ich! Den Fürsten der Engel, der den Drachen besiegt. Die alte Kirche in Kirchberg im Hunsrück, wo ich lebe, ist nach ihm benannt. Jahrhunderte lang haben sich katholische und evangelische Christen diese Michaelskirche geteilt. Und der Michaelismarkt Anfang Oktober ist hier einer der wichtigsten Tage im Jahr! Aber wer war der heilige Placide?
Ein paar Stationen weiter in der Pariser Métro kommt noch Saint Denis dazu. Ich kenne mehrere Menschen, die Dennis heißen. Jugendliche. Schüler oder Konfirmanden. Besonders heilig hat sich keiner von denen benommen. Aber kann ich ihnen das verdenken? Sind Heilige nicht immer Menschen, die schon eine Weile tot sind?
Als Evangelischer kenne ich mich da nicht so gut aus. Immerhin: den heiligen Nikolaus kenne ich natürlich. Und Sankt Martin! Im Rheinland, wo ich aufgewachsen bin, sind wir Kinder am Martinstag immer mit unseren Laternen von Haus zu Haus gezogen. Wir haben Martinslieder gesungen und dafür Süßigkeiten geschenkt bekommen. "Sankt Martin ritt durch Schnee und Wind. Sein Ross, das trug ihn fort geschwind." Ich kann heute noch alle Strophen!
Heilige sind also erst einmal ganz normale Menschen, die dann aber was Besonderes tun. So wie der heilige Martin, ein ganz normaler Soldat im 4. Jahrhundert, der seinen Mantel mit einem Bettler teilt. So gesehen, könnte jeder von uns zum Heiligen werden!
Zum Beispiel in der Pariser Métro. Da hab ich das erlebt: In den Wagen, in dem die Menschen sowieso schon dicht gedrängt stehen und sitzen, ist ein älterer Herr eingestiegen. Er ist nicht mehr gut zu Fuß. Eine dunkelhäutige Frau in schönen bunten afrikanischen Stoffen bemerkt ihn. "Monsieur!" Sie bietet ihm ihren Platz an. Da steht stattdessen gegenüber eine junge Frau auf und lässt ihn Platz nehmen. Ihr fällt das vielleicht leichter, sie steigt dann sowieso an der übernächsten Station aus. Die andere Frau dagegen hat offenbar noch eine längere Fahrt vor sich. Außerdem sieht sie etwas müde und abgearbeitet aus. Und war trotzdem so hellwach, dass sie den alten Herrn sofort bemerkt hat.
Sind das nicht auch Heilige? Ganz normale Fahrgäste, die in der vollgestopften Métro nicht den Überblick verlieren. Die sofort bemerken, wenn jemand Hilfe braucht. Und sich ohne Worte rasch verständigen. Normale Menschen, die etwas Besonderes tun. Ich finde: das sind Heilige!

Sind wir alle Heilige – oder können es zumindest werden? Ich glaube schon. In der Bibel sieht das der Apostel Paulus offenbar ganz ähnlich! Er nennt die Menschen, denen er seine Briefe schreibt, einfach alle "Heilige". "An alle Geliebten Gottes und berufenen Heiligen in Rom" – so steht es zum Beispiel am Anfang seines berühmten Römerbriefes.
So hat mich noch nie jemand angeredet! Wenn ich einen Brief bekomme, dann steht da "Sehr geehrter Herr Hartung" oder auch "Lieber Christian". In den E-Mails ist es etwas formloser: "Hallo", "Guten Morgen" oder auch einfach nur "Hi!" Doch wenn ich so einen Brief bekommen würde: "Lieber Heiliger Christian!" – da würde ich aufmerken! Aber: Habe ich denn etwas Besonderes getan? Ich fürchte, für eine Heiligsprechung würde das bei mir nie reichen!
Da fällt mir auf: Paulus stellt die Frage anders herum. Nicht: Was hast du Besonderes getan? Sondern er stellt fest: Da hat jemand etwas Besonderes für dich getan. Nämlich Jesus.
Jesus wollte kein besonderer Heiliger sein. Er hat sich als Kind Gottes gesehen. Und alle, die genauso dachten wie er, waren für ihn einfach seine Brüder und Schwestern.
Ich bin also ein Kind Gottes. Ich bin etwas Besonderes für Gott: also bin ich heilig. Und die anderen Menschen in meiner Gemeinde oder in anderen Gemeinden auch. Auch wenn sie Dennis oder Kevin heißen und sich gerade ziemlich unheilig benehmen! Kevin – das war übrigens auch ein Heiliger. In Irland habe ich als Schüler die Ruinen des Klosters gesehen, in dem er vor vielen Jahrhunderten gewirkt hat.
Gilt das jetzt nur für Christen – egal ob evangelisch, katholisch oder freikirchlich? Was ist zum Beispiel mit den Juden?
Ich lese in der jüdischen Bibel, dem Alten Testament der Kirche: "Ihr sollt heilig sein, denn ich bin heilig, der HERR, euer Gott!" Mit diesem Satz begründet Gott viele Dinge, die man tun oder lassen soll. Zum Beispiel: Bei der Ernte etwas für die Armen und Fremden übrig lassen. Nicht stehlen, lügen und betrügen. Einem Blinden kein Hindernis in den Weg legen. Und der Spitzensatz: "Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst; ich bin der HERR."
Wer also all das und noch einiges mehr tut, der ist heilig. Jeder Jude, jede Jüdin soll sich darum bemühen. Warum nicht auch die Christen?
Gott ist heilig. Wenn Menschen sich auf ihn verlassen, dann sind sie auch heilig. Und wenn sie einander gut sind und auch anderen gut tun, dann werden die anderen Menschen merken, dass sie zu Gott gehören. Und über manche, die besonders überzeugend sind, vielleicht sagen: Das ist echt ein Heiliger – oder eine Heilige.

https://www.kirche-im-swr.de/?m=16312
weiterlesen...