SWR4 Sonntagsgedanken

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Glaube, der nach Einsicht sucht

Was tut mehr weh: eine Ohrfeige, die ich mir nur vorstelle, oder eine Ohrfeige, die ich tatsächlich bekomme? Die Antwort liegt auf der Hand. Gleiches gilt für viele andere Bereiche: wenn ich jemanden küsse oder umarme, ist das intensiver, als wenn ich nur über Zärtlichkeit philosophiere. Auch werde ich von einem Schnitzel nur dann satt, wenn es real auf meinem Teller liegt - ein Fantasie-Schnitzel hilft da nicht weiter.
Anders gesagt: was es wirklich gibt, ist gehaltvoller als das, was nur theoretisch existiert.

Anselm von Canterbury hat das auch schon gewusst. Vor rund 950 Jahren hat er mit diesem Argument versucht zu beweisen, dass es Gott wirklich gibt. Viele halten ihn deshalb für den bedeutendsten Theologen des 11. Jahrhunderts. Heute ist sein Gedenktag und ich finde, seine Ideen sind nach wie vor spannend. Er wollte damals Gott und das, was die Christen glauben, ganz logisch und plausibel erklären - selbst für die Menschen, die nicht an Gott glauben. Doch wie hat er das gemacht?

Für Anselm ist klar, dass Gott absolut vollkommen ist. Es gibt nichts, das größer ist als er. Wer an Gott glaubt, beschreibt ihn als allmächtig, allwissend, allgegenwärtig - ja, als Allergrößten eben. Aber auch diejenigen, die nicht an Gott glauben, können sich zumindest ein Wesen vorstellen, das absolut vollkommen ist - etwas, worüber hinaus es nichts Größeres gibt.

Und genau hier kommt für Anselm der Gedanke ins Spiel, den jeder verstehen wird, der schon mal eine Ohrfeige bekommen hat, umarmt worden ist oder ein Schnitzel gegessen hat: was wirklich existiert, ist gehaltvoller als das, was nur in Gedanken vorkommt.
Kann man sich also etwas absolut Vollkommenes vorstellen, dann muss es das auch real geben. Würde dieses Vollkommenste nämlich nur in der Fantasie existieren, dann wäre etwas denkbar, das noch größer und noch vollkommener ist: nämlich etwas, das es auch real und wirklich gibt. Folglich muss es Gott geben - theoretisch UND praktisch.

Anselm von Canterbury geht also von der Gedankenwelt aus und schließt von ihr auf die Wirklichkeit. Dass man so etwas tun kann, lässt sich aus alltäglichen Erfahrungen belegen: echter Schmerz, wirkliche Zärtlichkeit oder eine reelle Mahlzeit sind gehaltvoller als nur die Vorstellung davon. Damit beweist Anselm Gott.
In der Geschichte hat man immer wieder versucht, Anselms Argumente zu widerlegen. Doch bis heute faszinieren sie Menschen - auch mich. Wer nämlich Anselms gedanklichen Klimmzügen folgt - ob gläubig oder nicht - stößt auf das, was die Christen Gott nennen.

Wovon das Herz voll ist, davon kann der Mund nicht schweigen

Immer wieder versuchen Menschen zu beweisen, dass es Gott gibt. Manche wollen sogar belegen, dass Jesus der Sohn Gottes war und auferstanden ist. Mich fasziniert so etwas - gerade in der Osterzeit. Denn ich frage mich da oft, ob dieser Gott wirklich existiert, ob er Jesus tatsächlich aus dem Grab geholt hat und ob das auch bei mir einmal so sein wird. Es wäre schön, wenn es dafür Beweise gäbe.

Doch braucht es die wirklich? Es gibt doch Menschen, die damals dabei waren - Augen- und Ohrenzeugen wie Maria, Petrus, Paulus oder Barnabas. Diese Menschen haben Gott erlebt, sind Jesus begegnet oder am leeren Grab gestanden. Das hat sie so bewegt, dass sie öffentlich davon erzählt haben. Dafür hat man sie verfolgt und teilweise sogar umgebracht. Und dennoch waren sie nicht kleinzukriegen. Mit ihrem Leben sind sie für Gott eingestanden. Das ist historisch belegt und sollte eigentlich auch mich überzeugen. Und doch suche ich dauernd nach stichhaltigeren Beweisen. Woran liegt das?

Vielleicht ist es bequemer, Gott abstrakt zu beweisen. Ich kann nämlich jedes Argument auch widerlegen. Und solange ich keinen absolut überzeugenden Beweis finde, dass es Gott wirklich gibt, brauche ich nicht mit aller Konsequenz an ihn zu glauben. Anders bei jenen Zeugen. Es wäre so einfach, ihnen zu vertrauen. Doch wenn sie Gott erlebt haben, dann müsste auch ich mir darüber klar werden, wie ich zu ihm stehe. Vielleicht müsste ich sogar mein Leben umkrempeln. Und das ist anstrengend! Ich brauche ja nur auf Jesus zu schauen, wie er gelebt und gehandelt hat, und sofort fallen mir Dinge auf, die ich in meinem Leben verändern sollte. Womöglich müsste ich mich sogar öffentlich zu Gott bekennen - wie die Christen damals: wovon ihr Herz erfüllt war, davon konnte ihr Mund nicht schweigen! Aber genau deshalb wurden sie ja von so vielen abgelehnt. Was, wenn das auch mir passiert?

Ich brauche nur mal ehrlich zu mir selbst sein: Bei Trauergesprächen war genau das schon mein Problem. Ich habe mich mehrfach davor gedrückt, Gott ins Spiel zu bringen - immer dann, wenn die Angehörigen mit Gott offenbar wenig anfangen konnten. Ich habe vieles über den Verstorbenen erfragt, wie er so war, was er gemacht und im Leben erreicht hat. Gebetet aber habe ich nicht. Ich habe auch nicht viel von dem gesprochen, wovon ich selbst überzeugt bin: nämlich dass es nach dem Tod weitergeht. Davon habe ich erst in der Friedhofskapelle gepredigt - dort, wo es erwartet wurde, wo niemand darauf reagieren oder gar kritisch nachfragen konnte. Ich habe es also vermieden, konkret für meinen Glauben einzustehen.

Gerne wäre ich mir absolut sicher, dass es Gott gibt und dass Jesus sein Sohn war. Aber was dann? Für die Botschaft Jesu einzustehen, kann ziemlich schwer sein. Es beeindruckt mich, wie konsequent die ersten Zeugen der Auferstehung das geschafft haben. Von ihrer Kraft und Überzeugung - davon wünschte ich mir manchmal auch etwas.

https://www.kirche-im-swr.de/?m=15150
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