SWR4 Abendgedanken BW

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Ich liebe den Herbst. Die reifen Früchte verströmen ihren Duft. Bald werden sie geerntet. Das Laub verfärbt sich und schillert in allen Farben. Wie gern gehe ich dann spazieren. Ich genieße die warmen Sonnenstrahlen. Die Herbstsonne steht tief. Der Schatten vor mir wird immer länger. Wie ich diesen Schatten so anschaue, will ich am liebsten wieder Kind sein und ihm nachjagen. Alle Versuche, ihn einzuholen sind schon damals gescheitert. Mit der Sonne im Rücken ist er mir immer einen Schritt voraus. Und doch bin ich es, oder zumindest mein Abbild, das da vor mir hergeht. „Sich selbst vorweg sein" nennt der Philosoph Martin Heidegger dieses Phänomen. Und er erklärt es so: Der Mensch macht Pläne für die Zukunft, folgt seinen Träumen, streckt sich aus nach dem, was er erreichen möchte. Mit Heideggers Worten: Der Mensch ist sich selbst vorweg. Wie ich auf meinem Spaziergang so darüber nachdenke, macht der Weg eine Biegung. Ich gehe also in eine andere Richtung. Als ich wieder nach meinem Schatten blicke, ist er hinter mir. So schnell hat er meinen Weg gekreuzt - ich habe es kaum bemerkt. Der Heilige Augustinus sagt, dass es die Gegenwart eigentlich gar nicht gibt. Sie führe nur die Zukunft in die Vergangenheit über. Wenn ich auf meinen Schatten schaue, wird mir das klar. Wie schnell ist das, was ich mir ersehnt habe, was vor mir lag, an mir vorbeigewandert. Wenn es die Gegenwart aber gar nicht gibt, was treibt mich dann jeden Tag an? Augustinus schlägt die Erinnerung vor. Meine Pläne und Träume, sie gehen in Erfüllung oder platzen vielleicht auch. Was bleibt und mich immer wieder neu antreibt, das sind die Früchte, die Ernte, die Erinnerung an das, was einst vor mir lag. Ich staune. Was mir doch auf einem solchen Spaziergang alles durch den Kopf geht! Dabei wollte ich doch nur die Herbstsonne genießen. Ach ja, die Sonne?! Sie lässt ja den Schatten erst entstehen. Ob er vor oder hinter mir ist - es braucht die Sonne. Von ihr kommt das Licht, die Energie, die ich zum Spazierengehen, die ich zum Leben brauche! In mir wird es ganz still. Ob Zukunft, Gegenwart oder Vergangenheit: „Meine Zeit steht in deinen Händen, Herr" - heißt es in einem Lied. Und weiter: „Nun kann ich ruhig sein, ruhig sein in dir. Du gibst Geborgenheit, du kannst alles wenden. Gib mir ein festes Herz, mach es fest in dir."

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