SWR2 Wort zum Tag

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Wie kann ein Mensch einen neuen Anfang finden? Wie kann er seinem Leben eine neue Richtung geben? Diese Fragen haben Johann Hinrich Wichern umgetrieben
Wichern sah die Not der Kinder und jungen Erwachsenen in den Elendsquartieren Hamburgs und fragte sich: Wie kann ich diesen „verwahrlosten und schwer erziehbaren Kindern“ eine neue Lebensperspektive eröffnen?
1833 – Wichern war gerade einmal 25 Jahre jung, - ein Jahr nach Abschluss seines Theologiestudiums – da hat er in Hamburg ein so genanntes „Rettungshaus“ gegründet. Für die Aufnahme in das „Rauhe Haus“, - so hat Wichern die Einrichtung genannt, - hatte er ein besonderes Ritual. Als ich unlängst davon hörte, hat mich das befremdet und zugleich fasziniert:
Wer aufgenommen werden wollte, wurde 1. gebadet, bekam 2. neue Kleider angelegt und musste 3. Wichern ein Gelübde ablegen, von seinem vergangenen Leben nicht mehr mit anderen zu sprechen. Am nächsten Tag stand als erste Pflichtarbeit an, einen Teil der Mauer abzureißen, die das Gelände des Rauhen Hauses umgab.
Eine merkwürdige Pädagogik: Neue Wege finden durch einen unvermittelten Abbruch? Verletzende Erfahrungen so einfach abwaschen und mit neuen Kleidern zudecken? Sich neu orientieren durch Verschweigen? Für gegenwärtige Vorstellungen von Therapie eine krude und fremde Konzeption.
Ein Gespräch mit einem Drogenabhängigen hat bei mir Verständnis für Wicherns Ritual geweckt. Er erzählte mir von seiner kürzlich abgeschlossenen Therapie – wie er dort zwar für einige Wochen entgiftet war – aber nicht wirklich weiter gekommen ist. Seine Bilanz: „Ich falle immer wieder zurück. Die alten Neuigkeiten über mein Leben bringen mich nicht weiter. Ich habe kein Ziel. Ich bleibe immer der Alte.“
Wichern handelte aus dieser tiefen Weisheit, dass der Glaube Menschen von Grund auf – von jetzt auf nachher – verwandeln kann. Wie im Bibelwort zugesagt: „Ist jemand in Christus, dann ist er eine neue Kreatur, das Alte ist vergangen, Neues ist geworden.“
Braucht ein Neuanfang manchmal einen Abriss in meiner Lebensgeschichte, Zeichenhandlungen, die mich das erfahren lassen? So etwas wie eine Taufe, ein Abwaschen der vergangenen, verheerenden Verbindungen – in der Sprache des Glaubens: „ein Abwaschen der Sünde“? Und dann neue Kleider, „ein Christus anziehen“, wie das in der Bibel heißt - was soviel bedeutet wie: einen An-Halt für ein neues Leben? Das Abreißen der Mauer am ersten neuen Tag gehörte für Wichern zum Neuanfang: „Ich sperre dich nicht ein, denn du bist ein freier, von Gott geschaffener Mensch. Du kannst abhauen oder eine neue Geschichte zu beginnen“. Zum neu Anfangen gehört offenbar einer, der mir sagt: „Wenn du selber nicht mehr an deine Zukunft glauben kannst, - ich traue ich dir das zu!“ https://www.kirche-im-swr.de/?m=2
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