Anstöße SWR1 BW / Morgengedanken SWR4 BW

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22NOV2006
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Auf dem Foto hat sie strahlende Augen, einen lachenden Mund und ganz viele Falten. Ich meine, man sieht es ihr an, dass bei ihr Lachen und Weinen gleichermaßen zuhause waren: Dorothee Sölle, evangelische Theologin aus Hamburg. Vor drei Jahren ist sie gestorben. Da war sie 72 Jahre alt. Heute, am Buß- und Bettag, an Dorothee Sölle zu erinnern, macht deshalb Sinn, weil sie sich in einer umfassenden Weise mit Schuld und Versöhnung, Sünde und Umkehr befasste, wobei sie das Privatleben und die Politik untrennbar miteinander verknüpfte. Aufgewachsen ist sie in der Zeit des Dritten Reiches; sie hat den Nationalsozialismus unkritisch, ja sogar positiv erlebt. Doch schon Ende der 50ger Jahre begann sie, sich damit auseinander zu setzen. „Ich habe gründlich umgelernt“, sagte Dorothee Sölle über sich, „und fast 10 Jahre mit der Frage meiner Generation zugebracht: Wie konnte das geschehen? Ich wollte es sehr genau wissen, wann, wo, auf welche Weise, von wem Juden ermordet wurden.“ (aus: Heinrich Böll (Hg.), Niemandsland. 1985) Die Frage „ wer war schuld?“ war für sie mehr als eine Frage der Rechtsprechung im Gerichtsgebäude; sie suchte nach Antworten in einem weiten Sinn: wie und wodurch werden wir schuldig? Was heißt Sünde und wie ist Vergebung möglich? „Das Recht ein anderer zu werden“ titelt ihr Buch aus dem Jahr 1971. Es liest sich auch heute noch wie eine Werbung, sich der eigenen Schuld zu stellen.
Es gehört zur menschlichen Würde, schuldig zu werden. Nur wer schuldig werden kann, ist im vollen Sinn ein erwachsener Mensch, erkennt, was gut und was böse ist. Wer von einem anderen sagt: Lass ihn, er kann nicht anders! – der macht ihn klein und handlungsunfähig und verweigert ihm das Recht, ein anderer zu werden.
Diese Möglichkeit, ein anderer zu werden, erreichen wir selten im Handumdrehen. Es braucht das Eingeständnis, die Aufarbeitung der Schuld. Und als zweites brauchen wir eine Gruppe von Menschen, die einen Wiederanfang ermöglichen, oder zumindest Freunde oder Partner, die uns annehmen, wie wir sind, die uns unsere Reue glauben und die uns Umkehr zutrauen. Und die uns das Recht zugestehen, ein anderer, eine andere zu werden.
https://www.kirche-im-swr.de/?m=118
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